Beschreibung
KontingenzgeschichtenHerausgegeben von Frank Becker, Stefan Brakensiek und Benjamin SchellerDer Mensch der Vormoderne wähnte die Zukunft bei den Göttern aufgehoben, erst moderne Gesellschaften waren und sind vor die Herausforderung gestellt, im Bewusstsein der Ungewissheit alles Künftigen zu denken und zu handeln der Umgang mit Kontingenz in der Geschichte ist weit komplizierter, als es dieses einfache Schema unterstellt. Auch in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit so die Quintessenz des Bandes entwickelten die Menschen Strategien, um sich gegen Schäden zu wappnen, die eintreten oder nicht eintreten konnten. Umgekehrt bestanden in der Moderne jene Formen der magischen Beschwörung des Künftigen vielfach fort, die üblicherweise mit vormodernen Gesellschaften identifiziert werden.
Autorenportrait
Markus Bernhardt ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Stefan Brakensiek ist dort Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Benjamin Scheller Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.
Leseprobe
Vorwort
Dieser zweite Band der Reihe Kontingenzgeschichten präsentiert Beiträge von Kolleginnen und Kollegen, die auf Einladung des Graduiertenkollegs Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage - Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln nach Essen gekommen sind und mit ihrer Expertise zur Problemstellung dieses historischen Forschungsverbundes beigetragen haben. Sie haben sich darauf eingelassen, Antworten auf die Frage zu formulieren, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten, in unterschiedlichen Weltregionen mit einer grundsätzlich unsicheren Zukunft aktiv umgegangen sind.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist das in den Sozial- und Geistes-wissenschaften verbreitete Postulat, die westliche Moderne habe ein prinzipiell neuartiges Verhältnis zur Kontingenz entwickelt, das sich von den Haltungen in "traditionalen Gesellschaften" - den älteren bzw. außer-europäischen Zivilisationen - fundamental unterscheide. Das Essener Graduiertenkolleg setzt sich mit dieser Annahme grundlegend kritisch auseinander. Es ist keineswegs angetreten, die Differenz zwischen der westlichen Moderne und anderen Gesellschaften in Abrede zu stellen. Die Frage ist freilich, worin Unterschiede zwischen und innerhalb von ver-schiedenen Gesellschaften bestehen, und ob der Umgang mit Kontingenz die entscheidende Grenzmarkierung bildet, als die sie aktuell im Moderne-diskurs erscheint.
Eingeleitet wird Ermöglichen und Verhindern mit einem methodologischen Beitrag zur Grundlegung der Praxeologie, jenen kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen, die sich in der Arbeit des Essener Kollegs zur Klärung von Fragen nach dem aktiven Umgang mit einer ungewissen Zukunft als besonders geeignet erwiesen haben. Die übrigen Beiträge setzen der verbreiteten Vorstellung einer kategorialen Differenz zwischen der westlichen Moderne und allen anderen Gesellschaften zwei alternative Perspektiven entgegen: Die einen befragen die Handlungsweisen von Menschen der Spätantike und des Mittelalters daraufhin, welcher aktive Umgang mit der Zukunft ihnen abzulesen ist. Die anderen gehen der Frage nach, was die Untersuchung von Prävention, Planung und Zukunftsforschung, also jener für die Moderne emblematischen Handlungsformen, zur Charakterisierung eben dieser Moderne beitragen kann.
Es handelt sich um Aufsatzfassungen von Vorträgen, die im Rahmen der Spring-School des Graduiertenkollegs vom 23. bis 25. Februar 2015 am Kulturwissenschaftlichen Institut (Hannig, van Laak, Leppin, Signori, Willer) sowie in der Ringvorlesung zum Thema Zukunftshandeln am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen im Wintersemester 2014/2015 (Flaig, Rexroth, Scheller) gehalten wurden.
Wir danken Andreas Blume, Philipp Föhrenbach, Pamela Mannke-Gardecki, Franzisca Scheiner, Dr. Olav Heinemann und Dr. des. Christian Hoffarth für ihre tatkräftige Hilfe bei der Redaktion des Bandes, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und seinem Direktor Claus Leggewie für die Unterstützung bei den Tagungen des Graduiertenkollegs, Jürgen Hotz vom Campus Verlag für die gute Zusammenarbeit und nicht zuletzt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Bezuschussung der Druckkosten.
Markus Bernhardt, Stefan Brakensiek und Benjamin Scheller
Essen im Mai 2016
Ermöglichen und Verhindern - Vom Umgang mit Kontingenz: Zur Einleitung
Stefan Brakensiek
Das Problem einer ungewissen Zukunft stellt sich prinzipiell. Ideen, die sich Menschen von der Zukunft machen und in der Vergangenheit gemacht haben, gehören zu den klassischen Untersuchungsfeldern der Geisteswissenschaften. So sind innerweltliche Utopien und Jenseitsvor-stellungen für alle Epochen und Weltregionen intensiv erforscht worden. Dass sich Menschen der Zukunft aktiv handelnd zuwenden, gehört dagegen eher zu den Selbstbeschreibungen der Moderne, als zu den ein-gehend untersuchten historischen Problemen. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass - sowohl in den älteren Epochen, als auch in den Gesellschaften außerhalb des Westens - Kontingenz lediglich erlitten und nicht gemanagt wurde. Erst auf der Grundlage einer neuen säkularisierten Vorstellung von einer offenen Zukunft, die in der westlichen Moderne seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde, sei gestaltendes, auf innerweltlichen Fortschritt angelegtes Zukunftshandeln möglich geworden.
Das Essener Graduiertenkolleg ist keineswegs angetreten, die Differenz zwischen der westlichen Moderne und anderen Gesellschaften unangemessen anthropologisierend in Abrede zu stellen. Die Frage ist stattdessen, worin Unterschiede zwischen und innerhalb von verschiedenen Gesellschaften bestehen, und ob der Umgang mit Kontingenz die entscheidende Grenzmarkierung bildet, als die sie aktuell im Modernediskurs erscheint. Dieser Diskurs nimmt Überlegungen von Reinhart Koselleck auf, der herausgearbeitet hat, dass mit dem Grundproblem der Kontingenz historisch unterschiedlich umgegangen worden ist, dass mithin auch die Zukunft eine Geschichte hat. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht der fundamentale Wandel geschichtlichen Denkens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seither erst habe sich Geschichte als Kollektivsingular zu einem genuin menschlichen Geschehenszusammenhang verselbstständigt. Seit der Sattelzeit, so der von Koselleck geprägte Begriff für das Jahrhundert zwischen 1750 und 1850, werde Geschichte als autonomer Prozess ver-standen. Die Beschleunigung der geschichtlichen Erfahrungen habe zu einer radikal neuen, modernen Zeiterfahrung von Fortschritt und menschlicher Freiheit geführt. Zukunft wurde nunmehr zu einem offenen Raum, in dem sich geschichtliche Erfahrung in die optimistische Erwartung von Gestaltbarkeit und Optimierbarkeit künftigen Geschehens ummünzte, nicht zuletzt mittels Eingrenzen des Zufälligen und Berech-nung von Zukunft durch wissenschaftliche Expertise und Prognose. Der "Möglichkeitshorizont" sei geradezu über die natürlichen menschlichen Horizonte hinausgewachsen. Grenzenlose Horizonterweiterung gilt damit als Charakteristikum der Moderne. Der Verdacht liegt freilich nahe, dass es sich dabei auch - und vielleicht sogar in erster Linie - um eine typisch moderne Selbststilisierung handelt.
Das Essener Forschungsvorhaben geht zwar ebenfalls davon aus, dass die Zukunft eine Geschichte hat, eine andere freilich, als das übliche Moderne-Narrativ glauben machen will. Diese Meistererzählung ist näm-lich im Kern teleologisch und allzu monolithisch. Der Übergang zur Moderne wird darin meist als ein linearer Säkularisierungsprozess begriffen. Paradigmatisch dafür ist der unterstellte Wandel in der Kon-zeptualisierung kontingenter Schadensereignisse: Während sie in der euro-päischen Welt vor dem 18. Jahrhundert und in allen außereuropäischen Gesellschaften als gott- oder naturgegebene Gefahren gegolten hätten, seien sie in der Moderne als Risiken verstanden und dadurch menschlichen Entscheidungen zugerechnet worden. Zweifel an dieser Sicht sind allerdings gut begründet, denn es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass sich Menschen in der Antike, im Mittelalter und in außer-europäischen Gesellschaften zur Zukunft kalkulierend und gestaltend in Beziehung gesetzt haben. Auch das monolithische Verständnis von Gesellschaft, das in diesem Narrativ aufscheint, erscheint eigenartig ver-engend: Es unterstellt, dass jede Gesellschaft nur einen Möglichkeits-horizont aufweist. Komplexe Gesellschaften bringen jedoch stets differen-zierte Vorstellungen von zukünftigen Ereignissen und Verhältnissen hervor. Entsprechend kennen sie eine Pluralität der Möglichkeitshorizonte.
Die Beiträge dieses Bandes setzen der verbreiteten Vorstellung einer kategorialen Differenz zwischen der westlichen Moderne und allen anderen Gesellschaften zwei alternative Perspektiven entgegen: Die einen befragen die Handlungsweisen von Menschen der Spätantike und des Mittelalters daraufhin, welcher aktive Umgang mit der Zukunft ihnen abzulesen ist. Sie kommen dabei zu einer differenzierten Sicht, die der Vorstellung nicht recht entsprechen will, dass die Menschen in Gesell-schaften, in denen der christliche Offenbarungsglaube das Ende aller Zeiten klar definiert und damit die Zukunft eschatologisch begrenzt hat, dem Kontingenten ausschließlich fatalistisch begegneten. Zwar spielte die Gefahrenabwehr eine wichtige Rolle, es geht bei den beobachteten Phänomenen aber nicht allein um die Verhinderung von drohendem Unheil, sondern auch um das Ermöglichen eines Gelingens hienieden, sicherlich mit Gottes Hilfe, und doch durch intelligibles, das Unvorher-sehbare einkalkulierendes Handeln. Die zweite Gruppe von Beiträgen geht der Frage nach, was die Untersuchung von Prävention, Planung und Zukunftsforschung, also jener für die Moderne emblematischen, auf die Gestaltung der Zukunft zielenden Handlungsformen zur Charakteri-sierung eben dieser Moderne beitragen kann. Interessanterweise stellen sich dabei Momente der Gefahrenabwehr und ein von Katastrophen-szenarien verdunkelter Zukunftshorizont viel dominanter dar, als es das Narrativ von einer am Fortschritt orientierten Moderne nahelegt.
Eingeleitet wird der Band mit einem methodologischen Beitrag zur Grundlegung der Praxeologie, jenen kulturwissenschaftlichen Forschungs-ansätzen, die sich in der Arbeit des Essener Kollegs zur Klärung von Fragen nach dem aktiven Umgang mit einer ungewissen Zukunft als besonders geeignet erwiesen haben. Denn im Zentrum unseres Interesses stehen nicht die Zukunftsvorstellungen, sondern der Mensch und sein Handeln in Bezug auf seine ungewisse Zukunft. Es spricht einiges dafür, dass es der Forschung zur Geschichte des Umgangs mit Kontingenz bislang nicht gelungen ist, die Pluralität der Möglichkeitshorizonte und der Formen der Kontingenzbewältigung in der Geschichte zu erfassen, weil sie vor allem danach gefragt hat, was die Zeitgenossen über die Zukunft zu wissen glaubten und nicht danach, wie sie sich angesichts einer ungewissen Zukunft verhielten. Dagegen betonen theoretische Ansätze, die Praktiken ins Zentrum ihres Interesses rücken, die Eigenlogik der Praxis, und können zeigen, dass die übliche Herangehensweise, die nach den mentalen Einstellungen zur Zukunft fragt, wichtige Einsichten verstellt.
Erst eine Herangehensweise, die das praktische Handeln von Akteuren in seinen Wechselbeziehungen zu den intellektuellen Werkzeugen der Weltdeutung untersucht, ist in der Lage, die Pluralität der Möglichkeitshorizonte und die Formen von Kontingenzbewältigung beobachtbar zu machen. In dieser Perspektive enthält Handeln Intentionalität, es setzt sich mit normativen Kriterien auseinander, und es erfolgt oftmals in symbolischen Formen. Jedoch werden Intentionalität, Normativität und symbolische Schemata in der Praxis grundsätzlich modifiziert. Die Praxeologie hinterfragt homogenisierende Kulturmodelle, die Kultur entweder als Sphäre geteilter Normen und Werte oder aber als kollektives Symbolsystem konzipieren. Und dies unabhängig davon, ob diese Modelle Kultur im menschlichen Geist und seiner mentalen Struktur oder aber in Texten, Diskursen oder "öffentlichen Symbolen" verorten. Kultur lässt sich ihr zufolge nicht als "abstrahiertes und als Einheit abgrenzbares Symbolsystem begreifen", sondern nur "in actu".
"Die Praxistheorie begreift die kollektiven Wissensordnungen der Kultur nicht als ein geistiges knowing that oder als rein kognitive Schemata der Beobachtung, auch nicht allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen, sondern als ein praktisches Wissen, ein Können, ein know how, ein Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines Sich auf etwas verstehen."
Dies hat zur Konsequenz, dass aus Sicht der Praxeologie und im Gegen-satz zum Mentalismus Wissen und seine Formen nicht praxisenthoben als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren sind: Statt zu fragen, welches Wissen eine Gruppe von Personen besitzt, lautet die Frage, welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt.
Egon Flaig unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, die Möglich-keiten auszuloten, welche die Konzepte Pierre Bourdieus für die geschichts- bzw. kulturwissenschaftliche Forschung bieten. Dabei positio-niert er dessen Praxeologie zwischen Handlungstheorie und Systemtheorie, indem er hervorhebt, dass der praxistheoretische Ansatz geeignet ist, die jeweils "blinden Flecken" der beiden anderen theoretischen Zugänge aufzuhellen. Die Handlungstheorie habe auf der einen Seite das Problem, menschliches Agieren zu sehr auf individuelle Motive und Antriebe zurückzuführen, während auf der anderen Seite sich die Systemtheorie der Gefahr aussetze, die Handlungsmacht der Akteure derartig zu minimieren, dass das System selbst "Subjekteigenschaften" erhalte. Mit Bezug auf und unter Abgrenzung von der Mentalitätsgeschichte, die der Autor für theoretisch unterkomplex hält, entwickelt er eine Logik der Praxis und des Habitus als Internalisierung der "Zwänge der sozialen Welt". An Beispielen aus der römisch-republikanischen Geschichte macht er schließlich deutlich, wie fruchtbar die Bourdieusche Habitus-Feld-Theorie für die Interpretation der Handlungen von Akteuren auf der politischen Bühne sein kann.
Die anderen Beiträge dieses Bandes fragen nach dem jeweiligen Um-gang von Zeitgenossen mit Zukunftsungewissheit in konkreten Handlun-gen und nach dem Wissen über den Umgang mit Zukunftsungewissheit, das in Praktiken aufscheint.
Hartmut Leppin untersucht in seinem Beitrag die verschiedenen Formen, in denen die frühen Christen Personalentscheidungen trafen. "Personalentscheidungen gehören zu den wichtigsten Formen des Zukunftshandelns. Auf eine kürzere oder längere Frist, teils auf Lebenszeit wird eine bestimmte Position besetzt, mit der sich eine Verantwortung für andere verbindet. Jede Personalentscheidung ist aber auch kontingent: Es hätte auch jemand anders bestellt werden können." Die frühen christlichen Gemeinden trafen ihre Personalentscheidungen angesichts einer Öffnung der Zukunft "zwar nicht ins Unendliche, aber doch ins Weite" durch die sogenannte Parusieverzögerung. Jesus hatte den Zeitgenossen verkündet, noch sie selbst würden seine Wiederkehr erleben. Doch mussten diese und ihre Nachkommen die Erfahrung machen, dass das Ende der Welt doch nicht unverzüglich kam. Sie mussten sich daher in der Welt einrichten und nicht zuletzt das Leben ihrer Gemeinden organisieren und deren Schlüsselpositionen besetzen.
Dabei war die Situation der Akteure gewissermaßen paradox. Als Gläubige waren sie überzeugt, dass alles Gottes Vorsehung anheimgestellt war. Die Besetzung von Leitungspositionen in ihren Gemeinden war aus ihrer Perspektive daher nicht kontingent. Es ging vielmehr ausschließlich darum, Gottes Willen zu erkunden. Die Erfahrung mit strittigen Entschei-dungen zeigte jedoch, dass Gottes Wille unter Umständen schwer zu erkennen war, "so dass am Ende doch eine Erfahrung von Kontingenz stand und man ein Verfahren benötigte, sie zu bewältigen."
In diesem Spannungsfeld zwischen einer Semantik der Gottgewolltheit und der praktischen Erfahrung von Konflikthaftigkeit erprobten die frühen Christen verschiedene Modi der Legitimation und Strukturierung von Personalentscheidung für Leitungsfunktionen, aus denen das Bischofsamt erwachsen sollte, nämlich Ausersehung, Abstammung, Losentscheid, Wahl und Kooptation. Die sich ausbildenden Verfahren zur Bischofswahl gewannen dabei zunehmend an prozeduraler Komplexität, konnten sich angesichts der Pluralität der Wege, Gottes Willen zu erkunden, jedoch niemals in ihrer Prozeduralität erschöpfen.
Am Beispiel Ottos von Freising (1112-1158) untersucht Frank Rexroth, wie mittelalterliche Geschichtsschreiber die Erfahrung sozialer Kontingenz artikulierten, wie sie "die irritierend kontingente soziale Inter-aktion, die sich vor ihren Augen abspielte", beobachteten, einordneten und damit in Handlungssinn integrierten. Im Zentrum stehen dabei die Gesta Friderici Imperatoris, (Die Taten Kaiser Friedrichs), ein Geschichtswerk, das Otto 1156 als Auftragswerk seines Neffen, Kaiser Friedrich Barbarossas (1122-1190), begann und das nach seinem Tod von seinem Schüler Rahewin fortgesetzte wurde. In diesem schildert Otto unter anderem zwei Ereigniskomplexe, die in besonderer Weise von nicht intendierten Folgen menschlichen Handelns und der damit verbundenen Emergenz unüberschaubarer und schwer kontrollierbarer sozialer Situationen geprägt waren: Erstens die Judenverfolgungen in den rheinischen Bischofsstädten während des Zweiten Kreuzzuges 1146 und zweitens einen frühen Theologenprozess des 12. Jahrhunderts, der 1147/48 gegen Gilbert Porreta, einen angesehenen Theologen und Bischof von Poitiers geführt wurde und an dem berühmte und hoch-rangige Zeitgenossen wie Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153) und Papst Eugen III. (1153) als Gegner des Bischofs von Poitiers beteiligt waren.
Das soziale Feld erscheint bei Otto von Freising dabei als eine Sphäre, "die fernab aller intentionalen Beherrschbarkeit ihre eigene bedrohliche Dynamik entwickeln kann." Gleichzeitig bemühte er seine philosophische Bildung, die er an den Schulen Frankreichs gewonnen hatte, um zu Antworten darauf zu gelangen, wie es sein konnte, "dass eine begrenzte Zahl von Menschen, die aus ihren jeweiligen Eigenarten und spezifischen Interessenlagen heraus und im Hinblick auf ihre Intentionen rational handelten, in der Interaktion miteinander so viel Verwirrung stiftete."
Der Beitrag von Gabriela Signori untersucht spätmittelalterliche Leib-renten und damit eine Vorsorgepraxis, an der sich beobachten lässt, "dass die spätmittelalterliche Gesellschaft es früh gelernt hatte, vorausschauend in die Zukunft zu blicken und diese Zukunft ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend anzupassen und zu gestalten." Leibrenten waren festverzinsliche Geldanlagen, die im späten Mittelalter vor allem von Stadtgemeinden aufgelegt wurden und die Käufer berechtigten, auf Lebenszeit Zinsen zu beziehen. Sie waren also eine spekulative Anlage, die für die Rentenkäufer umso lukrativer war, je länger sie lebten. Für die Emittenten dagegen galt das Gegenteil. Für sie war ein Leibrentenvertrag umso vorteilhafter, je schneller der Käufer bzw. Träger der Rente nach Vertragsabschluss verstarb. Geschätzt wurde die Lebenserwartung auf der Basis des Alters und der körperlichen Beschaffenheit (Komplexion) des Rententrägers.
Signori zeigt, dass die Mehrzahl der spätmittelalterlichen Moral-theologen diese Form des Zukunftskalküls unproblematisch fand, nicht zuletzt, weil viele Kleriker und Angehörige geistlicher Gemeinschaften selbst Rententräger waren. Zwar befand etwa Heinrich von Gent (vor 1240-1293) die Spekulation mit dem langen Leben bzw. frühzeitigen Tod gleichermaßen für unmoralisch. Andere Theologen folgten ihm hier jedoch nicht. So war Heinrich Totting von Oyta (ca. 1330-1397) der Ansicht, dass keiner der Kontrahenten einen Schaden erleide, wenn die Lebenserwartung der Rentenräger auf der Basis von Erfahrungswissen vernünftig geschätzt werde.
Zum Problem konnten die Leibrenten aufgrund ihrer hohen Ver-zinsung dagegen für den Haushalt der Städte werden. Diese versuchten daher immer wieder, die Laufzeit der Renten zu verringern, indem sie den Verkauf von Leibrenten auf alte Menschen beschränkten. Zwar sahen sich die Städte in Situationen akuten Geldbedarfs immer wieder gezwungen, diese Beschränkung aufzuheben. Dennoch entwickelte sich die Leibrente in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vielerorts "zu einem Vorsorgeinstrument für alte, kinderlose Menschen [] die keine Rücksicht auf potentielle Erben nehmen mussten."
Der Beitrag von Benjamin Scheller befasst sich mit den beiden Reisen des Venezianers Alvise Cadamosto, die er Mitte des 15. Jahrhunderts entlang der westafrikanischen Küste unternahm. Cadamosto reiste in Abstimmung mit der Krone Portugals, der er seine Erfahrungen in den neu entdeckten Räumen mitteilte, sein Interesse galt jedoch in erster Linie dem Sklavenhandel. Indem er mit den Herrschern der westafrikanische Küstenreiche Kontakt aufnahm, erschloss er für sich und nachfolgende Kaufleute neue Herkunftsregionen von Sklaven. In seinen Berichten tritt dem Leser eine verräumlichte Zeiterfahrung bzw. eine temporalisierte Raumerfahrung entgegen: Künftige Entdeckungen bilden darin den expliziten Erwartungshorizont, die Bewältigung damit verbundener Kontingenz - kann der Handel treibende Seefahrer verstehen, was er entdeckt? - wird freilich begrenzt durch die Fähigkeiten indigener Über-setzer. Die Grenzen ihrer sprachlichen Kenntnisse markieren die Grenzen des Verstehbaren. Und wo mit den afrikanischen Herrschern Verständigung nicht mehr möglich ist, endet ein kaufmännisch sinnvolles Voransegeln ins nautisch Unbekannte. Entsprechend ist der Möglich-keitshorizont für Cadamosto zwar prinzipiell weit geöffnet, realisieren lässt sich für ihn und die Seeleute auf seinen Schiffen aber nur das kaufmännisch Nützliche. Der Horizont wird demnach nicht durch das Denkbare begrenzt, sondern durch praktische Probleme der Umsetzbarkeit und Verwertbarkeit.
Die Beiträge zur Vormoderne behandeln Situationen und Konstel-lation, in denen menschliches Handeln auf die Bewältigung des Unvor-hersehbaren zielt und dabei neue Kontingenzen hervorbringt. Dabei erscheint Prävention keineswegs als ein proprium der Moderne. Ausmaß und Gegenstände von Prävention unterliegen freilich einem Wandel. Wer Getreidespeicher anlegt, Deiche baut, Entwässerungsgräben zieht, das Dach seines Hauses neu deckt und dabei auf nicht-brennbare Materialien setzt, betreibt präventive Gefahrenabwehr. Der Dialektik von Prävention ist jedoch grundsätzlich nicht zu entkommen, denn präventives Verhalten versucht einen künftigen Schaden handelnd abzuwenden, von dem angenommen wird, dass er bei Nicht-Handeln mit großer Wahrschein-lichkeit eintreten wird. Wenn man Prävention betreibt und ein Schaden nicht eintritt, bleibt dennoch die grundsätzlich unlösbare Frage, ob das Schadensereignis nicht ohnehin ausgeblieben wäre. Sicherheit ist darüber grundsätzlich nicht zu erlangen.
Das erweisen auch die Artikel zur Geschichte des 19./20. Jahrhunderts. Zwei unterschiedlichen Strategien des Umgangsmit möglichen künftigen Schäden widmet sich der Beitrag von Nicolai Hannig: Prävention und Resilienz. Während präventives Handeln das Eintreten eines unerwünschten Ereignisses gänzlich unterbinden will, geht es bei Resilienz darum, die negativen Folgen von Schädigungen, die im Prinzip nicht verhindert werden können, auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Das Anschauungsmaterial für diese Überlegungen bietet vor allem der Hochwasserschutz. Im 19. Jahrhundert dominierte die Ansicht, Überschwemmungen in Flusstälern könnten durch die Begradigung bzw. Kanalisierung der Ströme gänzlich ausgeschlossen werden. Im Zeitverlauf wurde aber deutlich, dass solche Formen der Prävention ihrerseits risikobehaftet waren; die massiven Eingriffe in die Natur rächten sich an anderer Stelle. Folglich setzte sich im 20. Jahrhundert die Resilienz als leitende Strategie durch. Begleitet wurde dieser Prozess von Verän-derungen in den Bereichen Administration und know how. Im 19. Jahr-hundert hatte der Staat den Katastrophenschutz als seine genuine Aufgabe angesehen und daraus zusätzliche Legitimation bezogen. Im 20. Jahrhundert gewannen die privaten Versicherungen an Bedeutung, die Elementarschäden zu versichern wagten, seit das damit verbundene Risiko durch Rückversicherungen aufgefangen wurde. Gemeinsam gründete man eigene Forschungsabteilungen, nicht nur um Schadenshäufigkeiten zu berechnen, sondern auch, damit der Umgang mit Schäden möglichst effizient gestaltet werden konnte. Als neue Denkoperationen wurden die Simulation und das Durchspielen von Szenarien etabliert. Hierfür waren neben naturwissenschaftlich-technischen auch sozialwissenschaftliche Kenntnisse gefragt, denn die Verhaltensweisen der Menschen im Schadensfall sollten ebenfalls optimiert werden. Zudem wandelte sich das "risk-management" immer mehr zum "risk-engineering", denn die Versicherer erkannten, dass die Schäden an versicherten Objekten maßgeblich von deren technischer Beschaffenheit abhingen - bestimmte Bauweisen führten dazu, dass Häuser durch Überschwemmungen weniger stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Erwünscht war daher die aktive Mitwirkung des Versicherten, um gemeinsam an der Optimierung der Ausgangslage zu arbeiten.
Dirk van Laak widmet sich in seinem Beitrag mit den Themen Archi-tektur und Städtebau aus der Sicht der "Praktiker". Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die im 20. Jahrhundert verbreitete Überzeugung, der Planende könne die für seine Planung relevanten Faktoren vollständig be-herrschen. Besonders in der Planwirtschaft der DDR sei diese Auf-fassung nachzuweisen. Andererseits treffe man aber gerade hier auf einen eklatanten Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ähnlich "utopische Überschüsse" finde man zwar auch in der Planungsgeschichte des westlichen Deutschlands, aber letztlich sei diese Entwicklung doch eher vom praktischen Erfahrungswissen als vom Visionären geprägt gewesen. Am Beispiel der praktisch Planenden, die der Autor den theoretisch der Wünschbarkeit verhaftet Planenden gegenüberstellt, wird gezeigt, dass sich deren Zukunftswissen eher aus dem Erfahrungswissen der Vergangenheit speist. Überhaupt sei die historische Forschung noch zu wenig auf die praktischen Prozesse der Planung eingegangen und habe sich stattdessen lieber den Ergebnissen dieser Prozesse gewidmet. Praktische Planung sei gegenüber theoretischer viel mehr auf die Wirklichkeit gerichtet, zumal die Planenden bei Verstößen auch strafrechtlich belangt werden können. Der Autor plädiert deshalb dafür, diese Prozesse der praktischen Planung stärker in den Blick zu nehmen, um den Einfluss von Zukunftswissen und Zukunftsvorstellungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Zeiträumen des 20. Jahrhunderts zu untersuchen.
Martina Heßler reichert den Begriff der Kontingenz um eine weitere Bedeutungsschicht an. Ihr geht es nicht darum, dass Menschen einzelne Situationen als kontingent wahrnehmen oder künftiges Geschehen für un-gewiss halten, sie untersucht vielmehr die Frage, ob nicht in der Moderne ein Kontingentwerden des Menschen insgesamt zu verzeichnen ist. Jeden-falls die Angst davor - so Heßlers These - gehört zu den Grund-emotionen des 19., mehr noch des 20. Jahrhunderts. Verknüpft ist sie mit der Technikentwicklung, die den Menschen zunehmend ersetzbar zu machen droht. Solche Befürchtungen kannte schon die Frühe Neuzeit, in der die Angst vor den Maschinen allerdings viel konkreter war: Ihren Anlass stellte vor allem die Sorge um den Verlust von Arbeitsgelegenheiten dar. Wo Maschinen wirkten, schienen weniger Menschen gebraucht zu werden. Daraus resultierte eine Gefährdung der gesamten sozialen Ordnung, denn der Status jedes Einzelnen hing von seinen Erwerbschancen ab. Seit dem 19. Jahrhundert hingegen vermittelten die technisch immer aufwändigeren Maschinen den Menschen das Gefühl, in eine strukturell unterlegene Position gegenüber ihren eigenen Artefakten zu geraten. Maschinen arbeiteten präziser, und sie ermüdeten nicht. Die Automatisierungsdebatten der 1950er Jahre malten dann das Schreckgespenst eines vollends überflüssig werdenden Menschen an die Wand. Kurze Zeit später demonstrierte der Computer, dass auch der menschliche Geist maschinell ersetzbar werden könnte. Das traditionelle anthropozentrische Weltbild, das dem Menschen die zentrale Stellung in der Welt zuerkannte, wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Wo Maschinen herrschten, würde es irgendwann beliebig - also kontingent - sein, ob Menschen noch existierten oder nicht. Die davor bestehende Angst, so das Fazit, sei so groß, dass ihr immer wieder der Mythos entgegengehalten werden müsse, der Mensch bleibe der unbestrittene Souverän der technisch-industriellen Entwicklung.
Der abschließende Beitrag von Stefan Willer befasst sich zunächst mit Sicherheit als einem Thema für die historischen Kulturwissenschaften, vor allem mit den zeittheoretischen und den erkenntnistheoretischen Implikationen von Prävention. Die Imagination des Zukünftigen als etwas Negativen und damit zu Verhütenden sei jeder Prävention eingeschrieben, ja vorgängig. Fiktion ist damit nicht lediglich Bestandteil der medialen Repräsentation von Präventionspraktiken, sondern notwendig, um präventives Zukunftshandeln überhaupt konzeptualisieren zu können. Prävention enthalte nämlich einen "paradoxen Zukunftsbezug": Die Etablierung von Sicherheit impliziere eine Stillstellung der Zeit durch die Verlängerung der Gegenwart in eine abgesicherte Zukunft. Spätestens mit dem um 1970 einsetzenden future shock sei die offene Zukunft des revolutionären Aufbruchs, der gesellschaftlichen Utopie, der künstlerischen Avantgarde oder der wissenschaftsoptimistischen Futurologie verabschiedet worden.
Im Anschluss befasst sich Willer mit einem der prominentesten fiktionalen Texte des aktuellen Präventionsdiskurses, Philip K. Dicks Science-Fiction-Erzählung The Minority Report von 1956, deren Bekannt-heitsgrad durch die Spielberg-Verfilmung im Jahr 2002 noch gewachsen ist. Damit will er methodisch explizieren, in welchen Hinsichten eine Zukunftsfiktion Bestandteil einer kulturellen Analyse aktueller Präventionsregime sein kann, die logischen und temporalen Paradoxien grundsätzlich nicht entkommen können. Dicks Erzählung erschließt neue Zukunftsmöglichkeiten (multiple-futures) mit mehreren alternativen Zeitpfaden und hebt auf die metaphysische Seite des Vorhersehens und Vorherwissens ab, auf die das rationale Risikokalkül immer wieder zurückgeführt werden muss.
Inhalt
Inhalt
Vorwort 7
Markus Bernhardt, Stefan Brakensiek, Benjamin Scheller
Ermöglichen und Verhindern - Vom Umgang mit Kontingenz: Zur Einleitung 9
Stefan Brakensiek
Wie relevant ist die Praxeologie für die Kulturwissenschaften? 23
Egon Flaig
Personalentscheidungen und Kontingenzbewältigung unter frühen Christusanhängern 49
Hartmut Leppin
Fehltritte - Otto von Freising, der Prozess gegen Gilbert von Poitiers und die Kontingenz der sozialen Kommunikation 83
Frank Rexroth
Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln: der spätmittelalterliche Leibrentenvertrag 117
Gabriela Signori
Kontingenzbewältigung im Zeit-Raum - Die Reisen des Venezianers Alvise Cadamosto nach Westafrika (1455 und 1456) 143
Benjamin Scheller
Resilienz - Vorgriffe auf Naturgefahren in Deutschland und der Schweiz seit 1800 167
Nicolai Hannig
Zukunft konkret - Zeithistorische Anmerkungen zum Handeln der praktisch Planenden 191
Dirk van Laak
Angst vor Technik und das Kontingentwerden"des Menschen" 209
Martina Heßler
Sicherheit als Fiktion - Zur kultur- und literaturwissenschaftlichen Analyse von Präventionsregimen 235
Stefan Willer
Autorinnen und Autoren 256
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