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Das Gedächtnis der Haut

Zwei Novellen

Erschienen am 23.08.2004
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446205291
Sprache: Deutsch
Umfang: 320 S.
Format (T/L/B): 3 x 20.8 x 13.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

David Grossman erzählt von der Liebe, von Schauls Eifersucht über den Geliebten seiner Frau Elisheva und von der Schriftstellerin Rotem, die ihrer Mutter Liebesentzug vorwirft. Dabei erfahren wir immer wieder von Augenblicken größter Nähe und tiefster Einsamkeit der Protagonisten: Geschichten voller geheimer Träume und Obsessionen.

Autorenportrait

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. 2021 wurde ihm das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013), Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016), Die Sonnenprinzessin (2016), Eine Taube erschießen (Reden und Essays, 2018) und Was Nina wusste (2020). Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschien zuletzt 2018 das Kinderbuch Giraffe und dann ab ins Bett!, 2023 folgt das Bilderbuch Opa, warum hast du Falten?.

Leseprobe

Ein gedrungener Mann mit hervortretenden Augen, wulstigen Lippen und großen Händen glotzt sie an. Sie spürt ihn, bevor sie ihn sieht. Ein unguter Luftzug ist in ihren Kreis eingedrungen. Sie schlägt die Augen auf und sieht ihn kopfunter. Er ist gegen den Türrahmen gelehnt. Shorts, Blumenhemd, blutrote Lippen wie ein Raubtier nach dem Fraß. Sachte stößt sie sich von der Wand ab, läßt erst das eine, dann das andere Bein auf den Boden herab, erhebt sich und baut sich vor ihm auf. Der Kerl stößt einen kurzen, abfällig klingenden Pfiff der Anerkennung aus. Als ich klein war, sagt er, konnte ich das auch. Auf dem Kopf stehen, meine ich. Nilli sagt nichts. Vielleicht hat er sich in der Tür geirrt. Sucht den Fitnessraum. Was soll das hier sein, fragt er mit dem gleichen affektierten Tonfall, lässig und drohend zugleich, Yoga? Sie beginnt, die vom Vormittag liegengebliebenen Matten aufzurollen. Drei Urlauberinnen waren zu ihr gekommen, um etwas für die Figur zu tun. Dabei hatten sie unentwegt gekichert und geschwätzt und den Hintern nicht hochbekommen. Jawohl, sagt sie, und es klingt wie »was dagegen?« Yoga. Yoga? Was war das noch mal? Hilf mir auf die Sprünge. Er zieht eine Packung »Nobless« aus der Brusttasche, klopft sie ein-, zweimal auf dem Handrücken auf und fischt sich eine Zigarette heraus. Yoga ist wären Sie so freundlich, hier das Rauchen zu unterlassen? Ihre Blicke fechten miteinander. Langsam schüttelt er den Kopf von rechts nach links, als tadele er ein Kind. Seine Lippen runden sich zu einer hämischen Kußbewegung: Für dich, mein Täubchen, mach ich alles; sie fühlt, wie sie mit einem knappen, abschätzenden Blick von oben bis unten geröntgt wird, sie ist wie gelähmt, zu keiner Bewegung fähig, und Wut beginnt in ihr zu brodeln. Wird man bei dieser Nummer vielleicht auch massiert? Massiert wird auf der rechten Seite am Ende des Flurs. Medizinisch, den Zusatz kann sie sich nicht verkneifen. Und was du hier treibst ist nicht medizinisch? So, denkt sie. Das erledigen wir mit links. Darin haben wir Erfahrung. Und sie richtet sich auf, ist einen ganzen Kopf größer als er, verschränkt die Arme vor der Brust, nein, nein, sie betont jedes einzelne Wort, eine Massage, wie Sie sie offenbar nötig haben, werden Sie hier nicht finden. Übrigens, auch sie kann so grinsen: breit, funkelnd, zweiunddreißigmal Verachtung mitten ins Gesicht. Doch er bleibt unbeeindruckt, im Gegenteil, es scheint ihn zu erheitern. Seine Zunge wandert hinter der Unterlippe lässig durch seine Mundhöhle und bildet kleine, von einer Seite zur anderen ziehende Beulen, die Nilli unweigerlich an die wellenförmige Bewegung auf den Bäuchen trächtiger Tiere erinnern. Er feixt: Ich habe gefragt, was du einem so bietest. Tief Luft holen. Abwarten. Ihm nicht den Gefallen tun. Ihm von deiner ruhigen Stelle aus antworten. Hier beweist es sich, nicht auf einsamen Gipfeln zwischen hellblauen Wolken sitzend. Hier, von Angesicht zu Angesicht. Du willst mir also nicht sagen, was man bei dir geboten bekommt? Wieder regt sich die Zunge in dem geilen Mund. Hier steht groß und breit »Yogaraum«! Hier steht »Yogaraum«, weil hier Yoga unterrichtet wird, Yoga. Für die Art von Massage, für die Sie sich interessieren - und sie nähert ihm ihren Kopf, bietet ihm die Stirn, ihr breites Katzengesicht zeigt Zähne - können Sie sich jemanden aufs Zimmer kommen lassen. Bitten Sie den Portier um eine Telefonnummer. Hier im Hotel gibt es Mädchen, die es Ihnen liebend gern besorgen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Und sie fährt fort, hektisch die Matten aufzurollen. Ich habe keinen Bedarf, nuschelt er und wechselt von einem Bein aufs andere. Ehrlich gesagt geht es gar nicht um mich, ich suche was für meinen Sohn. Sie suchen was für Ihren Sohn? Sie richtet sich langsam auf- stemmt zwei kräftige Hände in die Hüften, wofür halten Sie mich? Und sie wirft den Kopf in den Nacken, ihr kurzes Haar richtet sich elektrisiert auf; in New York und in Kalkutta hat diese Geste in Kombina Leseprobe

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