Beschreibung
In ihrem vielbeachteten Beitrag zur Debatte über die Zukunft der Familie und die Rolle der Frau spricht Iris Radisch schonungslos zahlreiche harte Wahrheiten aus. Sie zeigt aber auch neue Perspektiven und Auswege aus dem Dilemma moderner Frauen, sich zwischen Beruf und Familie, zwischen Kindern und Karriere entscheiden zu müssen.
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Leseprobe
Wenn wir in den letzten paar tausend Jahren unsere Bevölkerungszahl erhalten und sogar steigern konnten, so war das möglich, weil Frauen unterdrückt und benachteiligt wurden. Das ist ein Satz, der wehtut. Ein Satz, über den man lieber hinweggehen würde. Aber wir können ihm nicht ausweichen. Es hilft uns nichts, so zu tun, als wäre er nicht wahr, nur teilweise wahr, nur für wenige wahr, nicht für uns wahr. Es ist, wie es ist. Frauen haben dafür gesorgt, dass wir mehr und immer mehr geworden sind. Und sie haben dafür einen hohen Preis gezahlt. Es war richtig und gut, diese Unterdrückung und Benachteiligung anzuprangern und sie so gut es ging zu beseitigen. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist eine der großartigsten Errungenschaften des modernen Lebens. Doch auch sie hat einen Preis. Seitdem wir Frauen nicht mehr unterdrückt und weniger benachteiligt sind, hat der schmerzhafte Satz sich umgekehrt. Er lautet jetzt so: Wenn wir in den letzten paar Jahrzehnten unsere Bevölkerungszahl nicht erhalten und schon gar nicht steigern konnten, so liegt das daran, dass Frauen nicht mehr unterdrückt und weniger benachteiligt werden. Mit anderen Worten: Seitdem die Frauen den Preis für die Kinder nicht mehr zahlen wollen, gibt es immer weniger Kinder. Und damit haben wir ein Problem. Männchen, Weibchen, Nest und Nachwuchs, das ist der Gang der Welt seit Anbeginn. Eine Gattung, die sich einfach nicht mehr fortpflanzt, hat es bisher noch nicht gegeben. Ohne Kinder verzichten wir auf eine der tiefsten und lebendigsten Erfahrungen, die man im Leben machen kann. Ohne Kinder beenden wir die Kette der Generationen, der wir unser eigenes Leben verdanken. Was soll geschehen? Der Feminismus hat keine Antwort auf die Kinderfrage hinterlassen, das Patriarchat die falsche. Unser Glück und unsere Zukunft hängen davon ab, dass es eine andere Antwort gibt. Ich habe drei Kinder und einen Beruf, und ich glaube nicht an einfache Lösungen. Im Gegenteil, ich glaube, dass uns jeder, der uns einfache Lösungen in Aussicht stellt, nicht ernst nimmt. Ich glaube vor allen Dingen nicht an die Lösung, uns Frauen angesichts der offensichtlichen Schwierigkeiten den Rückzug aus dem Arbeitsleben zu empfehlen. Die Frau als edle Wilde, fern von der Welt, wohlverwahrt zwischen Kochtöpfen und Bettlaken, mit dieser Idee ist der Patriarch in der »Schule der Frauen« bei Molière schon vor über dreihundert Jahren gescheitert. Natürlich steht es jeder Frau frei, etwas Derartiges noch einmal zu versuchen, aber wenn wir alle diesen Rückzug antreten, überlassen wir die Welt wieder den Männern und unsere Fähigkeiten und Begabungen bleiben ungenutzt. Ich habe viele Jahre geglaubt, man muss es nur wollen, dann kann man alles haben, Kinder, Arbeit und Liebe. Glück ist zwar einerseits einfach Glückssache, aber andererseits eine Frage der Kraft. Und natürlich eine Frage der berühmten »Vereinbarkeit«. Das glaube ich inzwischen alles nicht mehr. Irgendwann, vielleicht an einem frühen Winterabend im vollbesetzten Vorortzug, vielleicht eines Nachts vor dem Wäschetrockner, vielleicht eines Morgens im Dunkeln auf dem Weg zum Kindergarten, kommen die Zweifel: Läuft hier nicht alles grundsätzlich falsch? An diesem Punkt kommt die Moderne ins Stottern. Und eine neue Frage taucht auf: Was machen wir jetzt? Darauf gibt es keine fertige Antwort. Wir müssen uns unsere Welt ansehen, in der etwas so Grundsätzliches wie die Fortpflanzung kaum noch Platz hat. Die Welt ohne Kinder, wie wir sie uns eingerichtet haben. Und die Welt mit Kindern, in der die Familien zerbrechen, auseinandergerissen werden und wir keine Zeit füreinander haben. Wir müssen uns unsere Biografien ansehen, die sich von ursprünglichen Lebenskreisläufen sehr weit entfernt haben. Und vor allem die Liebe, aus der nicht mehr viel folgt. Unser Frauenleben ist eines der lebenswertesten seit Frauengedenken. Doch in der Kinderfrage stehen wir immer noch mit dem Rücken zur Wand. So kann es nicht bleiben. 1. Kapitel Heldendäm