Autorenportrait
Zur Website der Autorin
Leseprobe
London, 11. September 2001 Das Problem, Em, liegt darin, dass sie - also die Ärzte - gesagt haben, es wäre 'ein Abschluss' für mich (was für ein schauderhaftes Wort), wenn ich dir einen Brief hinterlasse. Ich sagte: 'Glauben Sie wirklich, ich kann die Erfahrung eines ganzen Lebens in einem einzigen Brief zusammenfassen? Kann ich alles, was ich meiner Tochter sagen will, auf ein paar wenige Seiten Papier bringen?' Ich kann es nicht. Du kennst mich. Ich habe doch nie aufgehört, weiterzuquasseln, mein Schatz. Emma kam in diesem Moment ein Bild von Liberty in den Sinn - ihre Mutter am Küchentisch bei ihrer Großmutter Freya sitzend. Das musste Ende der Siebzigerjahre gewesen sein, denn vor der Morgensonne bildeten Libertys kastanienbraune, im Stil von Kate Bush gewellte Haare einen Heiligenschein, und im Radio lief Blondie. Beim Reden gestikulierte sie mit den Armen, und Freya konnte sich kaum halten vor Lachen. Emma hatte es sich im Hundekorb neben dem Ofen gemütlich gemacht und aß Toast, während sie mit Charles' neuem Boxerwelpen kuschelte. Das hatte sie noch in Erinnerung - den charakteristischen Geruch von zu Hause, von frisch gebrühtem Kaffee, knusprigem Toast, den trockenen Keksgeruch des Hundes, während er an dem grünen Emailschild mit der Aufschrift 'Head Girl' spielte, das an ihrem Wollpullover steckte. Manche Menschen erinnern sich anhand von Bildern oder Liedern, aber bei Emma war es stets der Duft. Liberty hatte ihr viel beigebracht, und schon als Kind erkannte sie instinktiv die harmonischen Noten des Duftakkords, der für sie 'zu Hause' ausmachte. 'Emma, Liebes, nun steh doch auf', hatte Freya damals gesagt. 'Deine Schuluniform ist ganz voller Haare.' Emma erinnerte sich, wie warm der Hund war, an seinen zarten hellbraunen Bauch, der sich an ihre kleine Hände schmiegte. Sie erinnerte sich, wie Liberty sie gekitzelt hatte, bis sie beide kichernd auf dem Boden lagen, während der kleine Hund um sie herumsprang. Wenn ihre Mutter sie umarmte, atmete Emma den Duft ihres Parfums ein. Rosen - für sie roch Liberty immer wie ein Rosengarten in voller Blüte; warm, sonnendurchflutet, ein reines soliflore. Du merkst gleich, ich habe es ein wenig übertrieben. Ich habe dir eine ganze Schachtel Briefe zurückgelassen, für jede Gelegenheit, die mir nur einfällt, einen. Und mein letztes Notizbuch habe ich dazugelegt. Ich würde mich freuen, wenn du da weitermachst, wo ich aufgehört habe, Em. Versprich mir, dass du es weiterführst. Benutze es. Fülle es mit wundervollen Dingen. Emma stützte den Ellbogen auf den Koffer neben ihr. Sie war monatelang auf Reisen gewesen, aber während sich der Routemaster-Doppeldecker der Linie 22 durch den Mittagsverkehr auf der King's Road quälte, spürte sie, wie all die Zeit von ihr abfiel. Es war ein typischer kühler, grauer Londoner Tag, ein leichter Herbstwind blies Laub über die Gehsteige. Nichts hatte sich geändert, nur sie selbst. Die Übelkeit, die sie seit Monaten verfolgte, stieg wieder in ihr auf, und sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Pfefferminzbonbon. Das Futter war zerrissen, und während sie Libertys Brief las, fuhr sie mit dem Zeigefinger am Saum entlang, suchte jedoch vergeblich. Schon hundert Mal hatte sie mit gezücktem Stift die letzte Seite im Notizbuch ihrer Mutter aufgeschlagen, war jedoch erstarrt, unfähig, an der Stelle weiterzuschreiben, wo Liberty aufgehört hatte. Nichts kam ihr wundervoll genug vor. Ein letztes Mal überflog Emma den Brief. Sie hatte nur diesen einen mit auf ihre Reisen genommen und ihn so oft gelesen, dass das Papier an den Falzen schon auseinanderbrach. Die Briefe warteten in einem schwarzen Lackkästchen in Libertys Werkstatt auf sie, ungeöffnet. Nachdem das Testament ihrer Mutter verlesen worden und Joe abgereist war, war Emma stundenlang dagesessen und hatte im Licht der Morgendämmerung, das durch das schräge Glasdach fiel, das Kästchen angestarrt. Sie hatte es in die Mitte von Libertys Tisch gestellt - einer eigens gebauten 'Parfümeur-Orgel', u