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Arbeiterfreunde

Soziale Mission im dunklen Berlin 1911-1933, Campus Historische Studien 67

Erschienen am 09.03.2013
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593397443
Sprache: Deutsch
Umfang: 451 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21.5 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Im Oktober 1911 gingen bildungsbürgerliche Sozialreformer in die Arbeiterviertel im Osten Berlins: eine soziale Mission, in deren Mittelpunkt das Kennenlernen der Menschen und Verhältnisse im 'dunklen Berlin' stand. Sie wurde für ihre Teilnehmer zu einer 'Schule des wirklichen Lebens', in der sie Erfahrungen nachholen konnten, die ihnen ihre bürgerliche Sozialisation bislang vorenthalten hatte. Indem er die Begegnungen zwischen Bürgern und Arbeitern schildert, bietet Jens Wietschorke eine Mikrogeschichte der Klassengesellschaft in Kaiserreich und Weimarer Republik und leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis bildungsbürgerlicher Mentalitäten.

Autorenportrait

Jens Wietschorke, Dr. phil., ist Assistent am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.

Leseprobe

Einleitung Bildungsbürger als "Arbeiterfreunde": Thema und Fragestellungen Diese Studie nimmt eine Gruppe aus Studenten, Theologen und Pädagogen in den Blick, die sich im Herbst 1911 daran machten, eine zugleich sichtbare und unsichtbare Demarkationslinie inmitten der eigenen Stadt zu überschreiten. Sie zogen auf die andere Seite der deutschen Hauptstadt, in das "dunkle Berlin" um den Schlesischen Bahnhof, in die Straßen und Hinterhöfe zwischen Großer Frankfurter Straße und Spree, zwischen den Gleisanlagen der Ostbahn und der Markthalle in der Andreasstraße, um zu helfen und zu erziehen, um einen Lichtschein von "wahrem Christentum" und einer besseren Welt in den Berliner Osten zu tragen - vor allem aber: um eine Realität kennenzulernen, die ihnen bis dahin vollkommen unbekannt geblieben war. Sie versuchten ein Alltagsleben zu verstehen, das sie bislang nur aus Elendsreportagen, Boulevardblättern und der Kriminalstatistik kannten. Sie versuchten Zugang zu einer Jugend zu finden, über die sie durch die Schriften von Ernst Floessel und Clemens Schultz, den Arbeiterfreund und die Innere Mission im Evangelischen Deutschland informiert waren und von der sie bislang nur wussten, dass sie als "gefährdet und verwahrlost" galt - einer Jugend aus "Halbstarken", "Straßenjungen" und "Herumtreibern", die nach dem Urteil der einschlägigen Literatur entweder zu Delinquenten oder zu Kommunisten werden mussten. Und trotzdem suchten sie im Berliner Osten auch den "einfachen, bedeutenden Menschen", der sie aus den Beschränkungen ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und eines vorgezeichneten Akademikerlebens befreien würde. Damit waren sie "Wanderer zwischen den Welten", die zugleich Vermittler zwischen den Welten sein wollten: zwischen Tiergartenviertel und Schlesischem Bahnhof, zwischen "Gebildeten" und Arbeitern, zwischen bürgerlicher Kultur und proletarischem Alltag. Diese Studie berichtet aber auch von einem weiten Kreis aus Politikern und Juristen, Professoren und Assessoren, Geheimräten und Geheimratswitwen, Landräten und Gutsbesitzern, Superintendenten und Verwaltungsbeamten, Publizisten und Kulturreformern, Musikern und Kunsterziehern, die die Arbeit der "Siedler" finanziell wie ideell unterstützt haben. Viele von ihnen haben die berüchtigte Gegend um den Schlesischen Bahnhof nie selbst betreten, und doch sind sie Teil dieser außergewöhnlichen sozialen Initiative gewesen. Zumindest verbindet sie eines mit den social explorers des Berliner Ostens: Sie alle waren davon überzeugt, dass die inneren Brüche der wilhelminischen Gesellschaft nur durch eine neue, umfassende soziale Bewegung und neue Formen der Verständigung zwischen den alten Bildungseliten und der städtischen Arbeiterbevölkerung zu überwinden seien. Sie gehörten - mit wenigen Ausnahmen - derselben soziokulturellen Formation an: dem protestantisch geprägten deutschen Bildungsbürgertum der Übergangszeit zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik, das in diesem Zeitraum gravierende Abstiegserfahrungen und Legitimationskrisen zu bewältigen hatte. Die Expedition in den Berliner Osten hat ganz wesentlich mit diesen Erfahrungen zu tun. Denn in den Arbeiterquartieren des "dunklen Berlin" suchten die "Siedler" nicht nur "the other half", sondern sie suchten vor allem sich selbst und ihre legitime Position in einer sich rapide modernisierenden, aber auch krisenanfälligen Gesellschaft. Das deutsche Bildungsbürgertum des ersten Jahrhundertdrittels ist aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive mittlerweile relativ gut untersucht. Über die Bestandsaufnahmen des "Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte" und des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur Geschichte des Bürgertums hinaus sind zahlreiche Studien erschienen, die sich in Überblicksdarstellungen oder anhand konkreter Gruppierungen, Vereine oder Institutionen mit der sozialen Lage und dem Selbstverständnis dieser - so Hans-Ulrich Wehler - "einzigartigen Sozialformation unter den westlichen Modernisierungseliten" auseinandersetzen. Im Fokus vieler Arbeiten steht zwar das bildungsbürgerliche Engagement in Sozialreform und Kunstförderung, unterbelichtet geblieben ist dabei allerdings die konkrete Bedeutung des sozialen Engagements für seine Akteure. Das ist doppelt bedauerlich: Zum einen, weil die Diskussion dadurch weitgehend auf programmatische Entwürfe und ideengeschichtliche Linien beschränkt bleibt, zum anderen, weil das für das Verständnis der "klassischen Moderne" so wichtige Verhältnis zwischen gebildetem Bürgertum und unterbürgerlichen Schichten nirgendwo so transparent wird wie in der Praxis sozialen Engagements. Die vorliegende Untersuchung möchte dazu beitragen, diese Forschungslücke zu verkleinern. Am Beispiel der "Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost" (SAG) wird eine Innenansicht eines sozial- und kulturreformerisch engagierten Vereins zwischen 1911 und 1933 geliefert, die bisherige Forschungsergebnisse zum bildungsbürgerlichen Selbstverständnis in der klassischen Moderne um neue Facetten und eine aufschlussreiche Mikroperspektive ergänzt. Davon ausgehend wird die Konstitution neuer Selbstentwürfe und kultureller Strategien des Bildungsbürgertums beleuchtet, wief sie anhand der SAG manifest werden. In den Blick kommt eine symbolische Ökonomie, die auf neue Allianzen und Kooperationsformen zwischen "Gebildeten" und "Volk" im Sinne "integrativer Führung" setzt und die letztlich als eine Antwort auf die tiefgreifende Statuskrise der klassischen deutschen Bildungseliten zu verstehen ist. Zugleich wird eine kulturanalytisch ausgerichtete Beziehungsgeschichte zwischen Bildungsbürgern und Arbeitern erzählt, wie sie in vergleichbarer Konkretion und empirischer Dichte bislang noch nicht vorliegt. Die im Oktober 1911 von Pastor Friedrich Siegmund-Schultze und einigen Studenten unweit des Schlesischen Bahnhofs in Berlin gegründete "Soziale Arbeitsgemeinschaft" verstand sich als eine "Niederlassung Gebildeter in einer armen Nachbarschaft" oder - anders formuliert - als eine "Vereinigung von sozial interessierten Persönlichkeiten, die sich im Berliner Osten niedergelassen haben, um deren Lebensverhältnisse zu teilen und kennen und verstehen zu lernen". Nach dem Vorbild der internationalen Settlementbewegung, vor allem des englischen Settlement Toynbee Hall, war es das erklärte Ziel der SAG, "durch eine möglichst enge Berührung mit der Arbeiterbevölkerung des ärmsten Stadtteils von Berlin den Klassenhass zu mildern, allerlei Nöten abzuhelfen und die zu Erreichenden, insbesondere die Jugend, in äusserer und innerer Beziehung zu heben". Gerade diese immer wiederkehrende Formel von der "inneren Hebung" steht paradigmatisch für das Anliegen der SAG, die sich nicht als Wohlfahrtsorganisation sah, sondern mit ihrer Arbeit einen gesamtgesellschaftlichen Erziehungsanspruch verband. Aus dem "sozialen Experiment" im Berliner Osten wurde binnen weniger Jahre eine anerkannte Initiative sozialer Arbeit und eine Schnittstelle sozialreformerischer Strömungen. Im Rahmen der SAG bestanden zeitweise über 30 Kinder- und Jugendklubs, der Verein verfügte über mehrere Gebäude in Berlin-Ost und Wilhelmshagen und unterhielt ein Volkshochschulheim. Durch ihre "akademisch-soziale Arbeit" stand die SAG in lockerer Verbindung mit der Berliner Universität. Sozialforschung in Form statistischer Arbeiten und teilnehmender Beobachtung gehörte zu den Hauptaufgaben der Mitarbeiter. Darüber hinaus erwarb sich das Berliner Settlement einen guten Ruf als informelle Ausbildungsstätte für soziale Berufe. Von Adolf von Harnack und Gertrud Bäumer bis hin zu Friedrich Wilhelm Foerster und Alice Salomon gehörten zahlreiche prominente Wissenschaftler und Reformer zum "Freundeskreis" der SAG; ein weitgespanntes Netzwerk von privaten Unterstützern sorgte für die finanzielle Absicherung der sozialen Arbeit. Doch 1933 endete die Geschichte der SAG als unabhängige soziale Einrichtung: Durch die Implementierung der nationalsozialistischen Jugendpolitik wurde ihr die Mög...

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