Beschreibung
Die neuere Arbeitsmarktpolitik will Erwerbslose aktivieren, indem sie ihnen Bewährungsproben auferlegt. Die empirische Studie untersucht Erwerbsorientierungen und Handlungsstrategien der Betroffenen in Ostund Westdeutschland. Dabei zeigt sich, dass von fehlendem Aufstiegswillen und mangelnder Arbeitsmoral keine Rede sein kann. Stattdessen erzeugt Hartz IV ein Wettbewerbssystem, das diszipliniert und zugleich stigmatisiert. Auf Seiten der Leistungsempfänger provoziert das eigenwillige Überlebensstrategien.
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Autorenportrait
Klaus Dörre ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Jena. Karin Scherschel, Dr. rer. soc., und Melanie Booth, M.A., sind dort wiss. Mitarbeiterinnen. Tine Haubner, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-KollegforscherInnengruppe "Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften" am Institut für Soziologie der Universität Jena. Dr. Kai Marquardsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Jena. Karen Schierhorn, dipl. soz., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Jena.
Leseprobe
3.5 Fazit: Erwerbslosigkeit als Wettkampf Im Ergebnis unserer Regionalstudien können wir nun genauer beschreiben, wie die aktivierende Arbeitsmarktpolitik die Erwerbslosigkeit und die Verwaltung des Arbeitslosengeld-II-Anspruchs zum Bestandteil eines Wettkampfsystems macht. Regionenübergreifend besagt der ökonomische Leitgedanke dieses Regimes, dass eine intensivere Konkurrenz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, aber auch unter den Arbeitslosen selbst, den Reservationslohn, also das Einkommen von Erwerbslosen, senkt und so den Anreiz zur Arbeitsaufnahme erhöht. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, marktgerechtes Verhalten der Erwerbslosen könne Beschäftigung erzeugen. Die Institutionalisierung dieses Leitbildes in den Gesetzeswerken 'Hartz I' bis 'Hartz IV' begründet ein Wettbewerbssystem, das den Arbeitsmarkt und die Arbeitsmarktpolitik auf neue Weise strukturiert. Die Umsetzung und Praxis der Reformen wird zum Gegenstand eines Kräftemessens zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren. Zum Zeitpunkt unserer ersten Erhebung ist die basale Kraftprobe zwischen Anhängern und Gegnern der Arbeitsmarktreformen in der politischen Arena auf Bundesebene bereits entschieden. Die Reformen haben Gesetzeskraft gewonnen und müssen nun umgesetzt werden. Kraftproben und Wertigkeitsprüfungen Allerdings ist das Ringen damit nicht beendet. Die Kraftprobe setzt sich trotz Grundsatzentscheidung auf jeder Ebene mit unterschiedlicher Intensität und wechselnden Gegenständen fort. Dieses Ringen ist in feldspezifische Rechtfertigungsregimes eingebettet, die den Grundsatz 'Gerecht ist, was Arbeit schafft!' als Basisregel anerkennen und regional variieren. Dementsprechend sind aus der Perspektive dieses Regimes alle Maßnahmen und Anreize legitim, die Erwerbslose zur aktiven Verbesserung ihrer Beschäftigungsfähigkeit motivieren. Ohne jede Garantie, einen einmal erreichten sozialen Status dauerhaft absichern zu können, müssen sich die Erwerbslosen durch Eigenaktivitäten für Fördermaßnahmen und 'Kundengruppen' qualifizieren, vor allem aber den Bezug von Transferleistungen rechtfertigen. Auf diese Weise sind die Arbeitsmarktakteure an der Konstitution und der Veränderung des Wettkampfsystems beteiligt. Arbeitslosigkeit wird nicht nur für erwerbslose und beschäftigte Leistungsbezieher, sondern auch für die zuständigen Sachbearbeiter der Arbeitsverwaltung zur permanenten Bewährungsprobe, die sowohl machtgestütztes Kräftemessen als auch Wertigkeitsprüfungen umfasst. Der Wettbewerb als Kräftemessen ist auf allen Untersuchungsebenen zu spüren. In der Arena arbeitspolitischer Netzwerke macht er sich eher indirekt bemerkbar. Die Arbeitsmarktregionen sollen, wollen und müssen zeigen, dass sie in der Lage sind, die Reformen rasch und effizient umzusetzen. Der regionalen Gestaltbarkeit sind vergleichsweise enge Grenzen gesetzt. Und trotz aller vordergründigen Übereinstimmungen innerhalb der Netzwerke darf nicht übersehen werden, dass der Reformansatz den korporativen Konsens der aktiven Arbeitsmarktpolitik aufsprengt. Die gewerkschaftlich-arbeitsorientierte Stimme ist im Konzert regionaler Akteure strukturell geschwächt. Wo korporatistische Traditionen und Politiken des 'sozialen Ausgleichs' dennoch weitergeführt werden, beruht dies auf einem fragilen Konsens der maßgeblichen Akteure, der so lange aufrecht erhalten werden kann, wie die Reformen nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Die Kraftproben setzen sich innerhalb der Arbeitsverwaltung fort. So werden die ARGEn nach Zielvorgaben und mittels strikter Budgetierungen geführt. Ihre Aktivitäten können anhand von Ausgaben und Vermittlungsquoten und Vermittlungsversuchen bewertet werden. Die Spitzen der Arbeitsverwaltungen brechen die Zielvorgaben und Budgets (zumindest informell) auf die Sachbearbeiterebene herunter. Auch Fallmanager und Vermittlerinnen haben sich zu bewähren. Sie sind Teil des Wettkampfs. Das gilt umso mehr, als sie, zumindest teilweise, fachlich nicht oder nur unzureichend für ihren Job qualifiziert wurden. Mitunter sind sie selbst mit befristeten Arbeitsverträgen ausgestattet und müssen mit einem Prekaritätsrisiko leben. Die Motivationen und Fähigkeiten der Sachbearbeiter, sich aktiv und kompetent am Wettkampf zu beteiligen, machen einen wesentlichen Unterschied innerhalb und zwischen den Regionen aus. Es ist kein Zufall, wenn seitens der Spitze des Trägers einer Optionskommune (Klein-Oststadt) offensiv herausgestellt wird, dass man selbst für die Auswahl motivierter und qualifizierter Mitarbeiter verantwortlich sei. Die Vermittler und Fallmanager sind in diesem Fall, so jedenfalls die Botschaft, aktive Wettkämpfer und dementsprechend verhalten sie sich gegenüber ihren 'Kunden'. Die eigentliche Kraftprobe findet jedoch zwischen Sachbearbeitern und 'Kunden' statt. Wir haben dieses Ringen bislang nur aus der Perspektive der Sachbearbeiterinnen beleuchtet. Vermittler wie Fallmanager verfügen offenbar über eine gewisse Definitionsmacht, weil sie Handlungsspielräume unterschiedlich ausschöpfen und Zumutbarkeitsregeln mehr oder minder streng auslegen können. Dabei geraten sie häufig in einen Zwiespalt zwischen legalen Vorgaben und deren fallbezogener Praktikabilität. In ihrem Selbstverständnis sind viele Sachbearbeiterinnen nicht nur 'Prüferinnen', sondern Arbeitsvermittler und Sozialarbeiter in einer Person. Selbst im Zwiespalt, versuchen sie, ihre 'Kunden' auf ein wechselseitiges Geben und Nehmen zu verpflichten. Zugleich fordern sie die Eigenverantwortung der Leistungsbezieher aktiv ein. Dementsprechend fühlen sich die Fallbearbeiter geradezu persönlich angegriffen, wenn Vereinbarungen seitens der 'Kunden' nicht eingehalten werden. Das schlägt sich in einem ständigen, an den vorhandenen Machtressourcen gemessen asymmetrischen Kräftemessen zwischen Fallbearbeiterinnen und Erwerbslosen nieder. Angetrieben von dem Ziel, ihre Leistungsvereinbarungen in der Verwaltung zu erfüllen, machen die Sachbearbeiterinnen die Motivation und den 'guten Willen' der Leistungsbezieher zum Selektionskriterium für die Transferzahlungen und für die Intensität ihrer eigenen Bemühungen. Die 'Kunden' werden klassifiziert und Eingliederungsbemühungen bevorzugt an 'Kundengruppen' mit vergleichsweise geringen Vermittlungshemmnissen adressiert. Doch je erfolgreicher diese Bemühungen sind, desto eher stoßen die Sachbearbeiter in ihrer Praxis auf 'Kunden', die den Anforderungen des Wettkampfs aus unterschiedlichen Gründen nicht genügen. Spätestens in einer solchen Konstellation wird deutlich, weshalb die Umsetzung der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik allen Machtasymmetrien zum Trotz erheblich davon abhängt, ob die Bewährungsproben - an basalen Gerechtigkeitsmaßstäben gemessen - sowohl den Sachbearbeiterinnen als auch ihren 'Kunden' einigermaßen gerecht erscheinen. Wie in der Regionenanalyse bereits angedeutet, ist die Konsolidierung des aktivierenden Arbeitsmarktregimes daher an die Durchsetzung einer feldspezifischen Rechtfertigungsordnung gebunden. Die Gerechtigkeitsmaßstäbe, die dieser Rechtfertigungsordnung zugrunde liegen, lassen sich nun, im Anschluss an Dubet, genauer bestimmen. Die Arbeitsmarktakteure, die mit der Umsetzung der Reformen betraut sind, kritisieren Ungerechtigkeiten anhand von Maßstäben, die den moralischen Zustand der Gesellschaft thematisieren. Dies ist für Gerechtigkeitsurteile charakteristisch, die sich jenseits der Arbeitswelt herausbilden (Dubet 2008: 477f.). Entsprechende Urteile implizieren, dass die urteilende Person über moralische Maßstäbe verfügt, an denen sie das Handeln anderer - und grundsätzlich auch ihr eigenes Handeln - misst. Solche Maßstäbe erlauben eine Kritik 'im Namen der Gerechtigkeit', bei der die befragten Akteure auf unterschiedlichen Ebenen als Urteilende auftreten. Mit dem Gerechtigkeitsverständnis der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik verfügen sie über ein Angebot an Urteilskriterien, das sie für ihre Kritik heranziehen können. Sie können dieses Angebot jedoc...
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Internationale Arbeitsstudien