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Der Historiker ohne Eigenschaften

Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen, Campus Historische Studien 71

Erschienen am 15.10.2015, 1. Auflage 2015
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593504797
Sprache: Deutsch
Umfang: 518 S.
Format (T/L/B): 3.2 x 21.3 x 14.1 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Der Mittelalterhistoriker Friedrich Baethgen absolvierte eine glänzende Hochschulkarriere in drei politischen Systemen. In der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik kam er zu höchsten Ehren, so zuletzt als Präsident der Monumenta Germaniae Historica. Joseph Lemberg deutet Baethgens Erfolg als Resultat der Anschlussfähigkeit eines konservativen Geschichtsdenkens, das die politischen Brüche des 20.Jahrhunderts fast unbeschadet überdauerte. Durch das Prisma seines "Historikers ohne Eigenschaften" lässt diese Problemgeschichte eine "Welt von Eigenschaften ohne Mann" (Robert Musil) entstehen, einen unheroischen Ausschnitt der deutschen Mittelalterhistorie zwischen 1920 und 1960. Für diese Dissertation erhielt Joseph Lemberg den Humboldt-Preis der HU Berlin (2015) und den Hedwig-Hintze-Preis des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (2016).

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Autorenportrait

Joseph Lemberg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin.

Leseprobe

I. Einleitung Aus New York, wohin sie 1941 emigriert war, schrieb Hannah Arendt am 9. Juli 1946 an Karl Jaspers in Heidelberg: "Gerade deshalb ist es ja so schlimm, daß die Universitäten 1933 ihre Würde verloren haben. Ich weiß nicht, wie man es anstellen soll, ihre Reputation wiederherzustellen. Denn sie haben sich lächerlich gemacht. Denazifizierung, sicher recht wichtig, ist da ja auch nur ein Wort; denn die Institution selbst, schlimmer der Stand der Gelehrten, sind lächerlich geworden. Dabei ist nicht entscheidend, daß Professoren nicht zu Helden geworden sind; sondern ihre Humorlosigkeit, ihre Beflissenheit, ihre Angst den Anschluß zu verpassen. [] Nun weiß ich, daß viele, vermutlich sogar eine Majorität, niemals im Ernst Nazis waren. Nur wird einem auch dies leider fragwürdig []". Der Reputationsverlust der deutschen Universitäten, den Hannah Arendt im Jahr 1946 beschwor, trat in Deutschland - wenn überhaupt - nur sehr vorübergehend ein. So sehr deutsche Professoren durch ihre Allianzen mit dem Nationalsozialismus gegenüber der kritischen Beobachterin Arendt "ihre Würde verloren" und sich vor der internationalen Gelehrtenrepublik selbst diskreditiert hatten, so wenig litt darunter im Deutschland der frühen Nachkriegszeit ihr Ansehen. Getragen von einer ungebrochenen Kontinuität gesellschaftlicher Anerkennung setzte der überwiegende Teil deutscher Lehrstuhlinhaber seine Karrieren nach 1945 fort. Für Hannah Arendt mochte der "Stand der Gelehrten [] lächerlich" geworden sein. In Deutschland aber lachte über diesen kein Mensch, weder vor 1945 noch danach. Mit "verantwortlichem Ernste", so mahnte Friedrich Baethgen im Jahr 1935, solle man der "Schicksalhaftigkeit" unseres "nationale[n] Dasein[s]" und "den bleibenden Notwendigkeiten und Aufgaben unseres völkischen Lebens" begegnen. Und mit "gesteigertem Ernst", so behauptete Friedrich Baethgen 1937, widme man sich, seitdem "das völkische Leben" durch die "Begründung unseres nationalsozialistischen Staates" eine "neue Stufe erreicht habe", den Kernfragen der "mittelalterlichen Periode unserer Geschichte". Mit weihevollem Ernst aber begegnete man Zeit seines Lebens auch ihm, Baethgen (1890-1972), der sich die Zeichen seiner gesellschaftlichen Anerkennung in jedem der von ihm durchlebten politischen Systeme ans Revers heften durfte: 1920 das "Verdienstkreuz für Kriegshilfe" im Ersten Weltkrieg, 1939 das von Adolf Hitler verliehene "silberne Treudienst-Ehrenzeichen", 1964 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Erstaunlich, doch keineswegs außergewöhnlich ist diese Sammlung politischer Ehrenzeichen, die das Kontinuum gleich vierer politischer Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts versinnbildlichen. Sie sind die Frucht einer beachtlichen Wissenschaftskarriere, die den noch im Kaiserreich promovierten Baethgen (1913) über seine erste Professur in Königsberg (seit 1929) und seinen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität (1939) schließlich nach München führte, wo er nach dem Krieg als Präsident der Monumenta Germaniae Historica (1947-1958) und als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1956-1964) führende Wissenschaftsinstitutionen des Landes repräsentierte. Friedrich Baethgen hat, um mit Hannah Arendt zu reden, den "Anschluß" an die Institutionen seines Faches nie verpasst, auch und gerade zwischen 1933 und 1945 nicht: Das zeigt seine prestigereiche Berufung nach Berlin, ins wissenschaftliche und politische Zentrum des nationalsozialistischen Deutschland, der er 1939 folgte; das verdeutlicht gleichfalls seine Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften im November 1944. Baethgens fulminante Nachkriegskarriere ist ohne seine Bewährungsgeschichte im nationalsozialistischen Staat nicht denkbar. Und doch ist auch für Baethgen Hannah Arendts Hoffnung in Rechnung zu stellen, dass viele Professoren "niemals im Ernst Nazis waren". Baethgen war nie Mitglied der NSDAP. Seine Tätigkeit im nationalsozialistischen Staatsdienst beschränkte sich auf seine Hochschulämter an der Königsberger (1929-1939) und an der Berliner Universität (1939-1947). In seinem Werk spielt der Begriff der Rasse keine und der des Volkes eine untergeordnete Rolle. Worauf beruht sein Erfolg im nationalsozialistischen Deutschland? 1. Fragestellung, Forschungsstand, Quellen Gegenstand dieser Arbeit ist es, diese Frage zu beantworten. Sie bewegt sich damit in jenem Problemkreis, den Hannah Arendt 1946 mit ihrer Frage nach den "deutschen Professoren" und dem Jahr "1933" vorgezeichnet hat. Baethgen repräsentiert mit seinem politisch eher unscheinbaren Profil den Großteil deutscher Ordinarien, die im Nationalsozialismus ihre Karrieren fortsetzen konnten, ohne dass sie ihr überkommenes Wissenschaftsverständnis im Jahr 1933 aufgegeben hätten und vollständig auf die Ideologeme des Nationalsozialismus eingeschwenkt wären. Baethgen steht damit für jene große Gruppe innerhalb der deutschen Historikerzunft, die Karl Ferdinand Werner im Jahr 1967 dazu veranlasste, zu behaupten, dass die "Gleichschaltung der deutschen Geschichtswissenschaft" im Nationalsozialismus gescheitert sei; Werner bezog sich dafür auch auf Schriften Baethgens. Dieses Urteil hielt Werner freilich nicht davon ab, zugleich auf die "tiefgehenden Affinitäten zwischen dem Geschichtsbild der Geschichtswissenschaft in Deutschland und dem Weltbild des Nationalsozialismus" aufmerksam zu machen. Die gescheiterte Gleichschaltung hätten "Hitler und seine Gefolgsleute [] zumindest teilweise verschmerzen" können, weil "deutsche Historiker" den "Auffassungen des NS-Geschichtsbilds entgegengekommen oder sogar gefolgt" seien. Werners These von der gescheiterten Gleichschaltung vertrat 30 Jahre später noch Ursula Wolf, die die politische Haltung aller deutschen Ordinarien und planmäßigen Extraordinarien zum Nationalsozialismus quantifizierend untersuchte. Wolf kam im Jahr 1996 zu dem Ergebnis, dass die Geschichtswissenschaft - trotz fassbarer politischer Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus - zum überwiegenden Teil den totalen Herrschaftsanspruch des NS-Staates habe abwehren können. Der "Widerstand" der Historiker "gegenüber dem nationalsozialistischen Geschichtsverständnis" habe sich zum einen in ihrem Insistieren auf "wissenschaftliche[r] Autonomie", zum anderen in der Abwehr einer "rassistische[n] Geschichtsbetrachtung" erwiesen. Aufbauend auf Wolfs empirischer Erhebung bilanzierte Jürgen Elvert, dass sich eine Minderheit von immerhin 20 Prozent der nach 1933 im Amt verbliebenen Historiker "eine kritische Haltung gegenüber dem NS-System" bewahrt habe. Hingegen hätten sich etwa 40 Prozent "zu einer offenen Kooperation" mit dem Regime entschlossen. Demgegenüber habe eine "etwa gleich große Gruppe", zu der Wolf und Elvert auch Friedrich Baethgen zählten, "ein Arrangement mit dem NS-System" angestrebt, dabei aber versucht, "im Rahmen des Möglichen das traditionelle Wissenschaftsverständnis zu bewahren": "Gelegentliche Lippenbekenntnisse zum System sollten hier jene Freiräume schaffen, die als notwendig erachtet wurden, um wissenschaftlich arbeiten zu können"; doch habe auch ihre "vermeintlich unpolitische Haltung letztlich das System" gestützt. Eine Gegenposition zu Werner, im Grunde aber auch zu Wolf und Elvert, nahm bereits in den 1990er Jahren Peter Schöttler ein: "Die Selbst-Gleichschaltung der Universitäten und zumal der historischen Seminare funktionierte nahezu reibungslos". Schöttler verwies auf die Vielzahl deutscher Historiker, die in ihren Schriften die Politik des Regimes bejubelt und legitimiert hatten. Er bezog sich auf das neue Paradigma der Volksgeschichte, deren Vertreter sich "auf dem Hintergrund der Hitlerischen Politik [] ganz bewußt in den Dienst einer aggressiven Politik" gestellt hätten. Und nicht zuletzt berief sich Schöttler für seine These auf den Tatbestand der zahleichen außeruniversitären Forschungsnetzwerke, die es den darin involvierten Historikern erlaubt hätten, sich ideologisch ...

Schlagzeile

Campus Historische Studien Herausgegeben von Rebekka Habermas, Heinz-Gerhard Haupt, Stefan Rebenich, Frank Rexroth und Michael Wildt

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