Beschreibung
Die Anschläge vom 11. September 2001 und die sich anschließenden militärischen und paramilitärischen Konflikte sind im Kino von Anfang an mit einem intensiven Widerspiel von Erzählungen und Gegenerzählungen beantwortet worden. Diesen vielstimmigen audiovisuellen Dialog nimmt der Band zum Anlass, die Rolle des Films in den kontroversen moralischen, rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart zu untersuchen. Mit Beiträgen von Thomas Elsaesser, Astrid Erll, Daniel Martin Feige, Josef Früchtl, Klaus Günther, Vinzenz Hediger, Anja Peltzer, Jochen Schuff, Martin Seel, Christiane Voss und Hans Jürgen Wulff.
Autorenportrait
Martin Seel ist Professor am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Jochen Schuff ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Leseprobe
Vorwort Erzählungen sind keine Einzelgänger. Auch wenn nur eine Geschichte erzählt wird, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es in unbewegten oder in bewegten Bildern, sei es auf den Bühnen des Theaters, der Oper oder des Tanzes: Sie antwortet immer bereits auf andere Erzählungen und andere Arten des Erzählens. Sie nimmt deren Faden auf, wiederholt deren Muster oder variiert sie, spinnt sie fort oder schmückt sie aus, polt sie um oder parodiert sie. Allein deshalb stehen Erzählungen nie allein. In ihrer jeweiligen Form verhalten sie sich auch dann zu den Verfahren und Formen anderweitigen Erzählens, wenn sie mit den zu einer Zeit etablierten Konventionen einer oder mehrerer seiner Gattungen brechen. Das ist einer der Gründe dafür, warum zumal künstlerische Erzählungen nur selten mit einer Stimme sprechen; in ihnen hallen die Stimmen anderer Narrationen wider, in ihrer Sicht auf die erzählten Begebenheiten bleiben andere Sichtweisen auf das vergegenwärtigte Geschehen spürbar. Dies ist in besonderem Maß der Fall, wenn eine Vielzahl verschiedenartiger Erzählungen einem Stoff, einer dramatischen Situation, einem historischen oder politischen Großereignis und seinen Folgen gewidmet ist. Dann bildet sich ein Geflecht von Erzählungen und Gegenerzählungen, das so dicht ausfallen kann, dass oft nicht mehr klar ist, welches Erzählen auf welche Weise auf welche anderen Geschichten über die Art von Begebenheiten reagiert. Dann tragen Erzählungen und Gegenerzählungen miteinander eine Kontroverse über die Signatur und Reichweite des fraglichen Geschehens sowie über die angemessenen Reaktionen auf es aus: womit sich die Adressaten aufgefordert sehen, ihrerseits Teil dieses narrativ ausgetragenen Deutungsgeschehens zu werden. Eine Situation dieser Art ist in jüngerer Zeit durch die ebenso rasche wie heftige Reaktion des filmischen Erzählens auf die Anschläge am 11. September 2001 und ihre bis heute andauernden Folgen entstanden. Seither sind Hunderte von Filmen unterschiedlicher Herkunft, Gattung, Machart und Ausrichtung produziert worden, die sich je auf ihre Weise mit den fraglichen Ereignissen befassen. Diesen in ästhetischer und politischer Hinsicht heterogenen Antworten des Kinos und anderer filmischer Formate auf die durch 9/11 ausgelösten militärischen und paramilitärischen Konflikte sind die Beiträge dieses Buches gewidmet. Aus verschiedenen thematischen und disziplinären Perspektiven wird untersucht, wie sich das Spektrum filmischer Erzählungen und Gegenerzählungen zu den moralischen, rechtlichen und politischen Kontroversen der Gegenwart verhält. Die Verhältnisse sind nicht nur deswegen komplex, weil sich Erzählungen immer auch zu ihren faktischen und möglichen Gegenerzählungen in Stellung bringen und auf vielfältige Weise mit ihnen interagieren. Sie treffen auch, wie das im Fall von 9/11 und den Reaktionen darauf überdeutlich wird, auf die Verarbeitung historischer Ereignisse in politischen, militärischen, juristischen, moralischen oder ideologischen Diskursen, die sich ihrerseits zu "Rechtfertigungsnarrativen" mit handlungsleitendem Einfluss formieren. Eine Untersuchung der Art und Weise, in der einzelne Erzählungen, in unserem Fall die filmischen Auseinandersetzungen mit den Ereignissen in der Folge der Anschläge in New York und Washington, sich auf begründende Erzählmuster beziehen, wirft zunächst die generelle Frage nach dem Modus des Erzählens und seiner Beziehungen zu Praktiken der Rechtfertigung auf. Diesen Beziehungen gehen die Herausgeber in ihrer ausführlichen Einleitung nach, in der Absicht, einen theoretischen Rahmen für die Deutung der Präsentationen von Terror und Krieg im Kino bereitzustellen. Mit Blick auf die beiden einflussreichen und kontroversen Spielfilme der Regisseurin Kathryn Bigelow, The Hurt Locker und Zero Dark Thirty, eröffnen die Beiträge von Jochen Schuff und Thomas Elsaesser die Detailanalysen des Bandes. Schuff operiert an The Hurt Locker drei Themenfelder heraus, die dort sehr pointiert zur Geltung gebracht werden, darüber hinaus aber in vielen anderen der Filme zum Thema ebenfalls auftauchen: die Darstellung des (männlichen) Körpers und die Wirkung der Darstellung auf den Körper des Zuschauers, die Verhandlung von Pathologien sowie die formalen Charakteristika einer Bebilderung des "Ausnahmezustands". The Hurt Locker präsentiert sich in dieser Sicht als Überlagerung von Erzählungen und Gegenerzählungen des "War on Terror". Insofern Schuff The Hurt Locker in der Exposition seiner Themen als exemplarischen Film versteht, öffnen seine Überlegungen zugleich eine Reihe von Bezügen zu den folgenden Texten. Elsaesser deutet Zero Dark Thirty nicht allein als Film, an dem sich politische und moralische Kontroversen entzündet haben, insbesondere, was die Darstellung von Folter und die Implikationen ihrer Wirksamkeit betrifft, sondern so, dass er zugleich als Erzählung und Gegenerzählung seiner Ereignisse verstanden werden muss. In seiner minutiösen Analyse zeigt Elsaesser, dass in Bigelows Film gerade die Wechselwirkung erzählerischer Zugänge zum Tragen kommt. Die Interferenzen, die Zero Dark Thirty mit anderen Filmen und Filmgenres erzeugt, machen ihn als "Parapraxis" lesbar - also als teils angelegte, teils unbeabsichtigte Verschränkung disparater Perspektiven auf die Ereignisse nach 9/11. Die Frage, die Elsaesser am Ende seines Beitrags bewusst offenlässt, ob und wie nämlich parapraktische Widersprüche als Rechtfertigung fungieren könnten, nimmt Klaus Günther in seinem Kommentar zu Elsaessers Betrachtung in einer ergänzenden Überlegung auf. Zwar torpedieren performative Widersprüche im diskursiven Austausch von Gründen deren normative Kraft. Gründe aber sind häufig narrativ eingebettet, wobei die Logik ihrer argumentativen Konsistenz auf vielfältige Weise unterlaufen werden kann. Die komplexe Anlage von Erzählungen vermag durchaus widersprüchliche Positionen zu verschmelzen - als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Hybridisierung von Erzählgenres sowie als interne Verkopplung von Erzählungen mit ihren Gegenerzählungen. Es sind diese Modi des Erzählens, so argumentiert Günther, in denen widersprüchliche normative Standards und Perspektiven als solche normativ wirksam werden können. Daniel Martin Feige kontrastiert in seinem Beitrag Paul Haggis' In the Valley of Elah mit Brian De Palmas Redacted. Die Filme sind, so Feiges These, komplementär zu verstehen: während In the Valley of Elah Bilder des Kriegs einsetzt, mit denen er die Kriminalgeschichte, die er erzählt, quasi von innen heraus zum Einsturz bringt, inszeniert Redacted vielmehr einen Krieg der Bilder, indem er jeglichen narrativen Standpunkt in einer Schichtung verschiedener Medien und Perspektiven auflöst. Die augenfällige Differenz der beiden Werke wurzelt aber in einer ähnlichen Haltung: Vergleichbar sind die beiden Filme in ihrer zugrundeliegenden Behauptung, dass sich die Logik des Krieges nicht in die Logik filmischer Erzählung einpassen lässt. Josef Früchtl widmet sich anhand von Paul Greengrass' United 93 einem anderen Widerstand des Erzählens. Wie nämlich bereitet man audiovisuell eine Geschichte auf, deren Verlauf jede Zuschauerin schon kennt? Greengrass löst diese Schwierigkeit, so Früchtl, indem er einerseits die Funktionsweisen des Dokudramas einsetzt, sie andererseits aber in einer extremen Nahsicht, in einem Kino der somatischen Erfahrung und des Affekts, auflöst. Gerade so macht United 93 im historischen Moment die "brutale Kontingenz" der Ereignisse sichtbar und vor allem spürbar. Dass auch dokumentarische Filme stets Maßgaben ihrer Narrativierung unterliegen, und also ihren Anspruch auf Darstellung oder Intervention stilistisch und affektiv rahmen müssen, demonstriert Christiane Voss anhand der irakisch-britischen Produktion Life After the Fall von Kasim Abid. Seine sehr persönliche Erzählung aus dem Irak der Besatzungszeit tönt dieser Film, so Voss, im affektiven Modus der Depression. Gerade mit dieser narrativen Orga...