Beschreibung
Vom "sozialen Band" spricht man in Alltags- und Wissenschaftssprache gerne, wenn es darum geht, eine Krise des Sozialen zu diagnostizieren. Was aber ist das soziale Band? Zwischen wem ist es wie geknüpft? Und wann droht es zu reißen? Das Buch arbeitet erstmals systematisch und interdisziplinär diesen sozialtheoretischen Grundbegriff auf. Mit Beiträgen u.a. von Ulrich Bröckling, Marcel Hénaff, Frank Hillebrandt, Isabell Lorey, Dirk Quadflieg, Juliane Spitta und Gesa Ziemer.
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Autorenportrait
Thomas Bedorf ist Professor am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen und derzeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Steffen Herrmann, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FernUniversität Hagen.
Leseprobe
Vorwort Der Begriff des "sozialen Bandes" dient in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen dazu, eine grundlegende Form der Verbundenheit zwischen Subjekten deutlich zu machen. Dabei ist die Existenz einer solchen sozialen Verbundenheit keine Selbstverständlichkeit, sondern wird als Resultat komplexer historischer Vergemeinschaftungsprozesse verstanden. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert scheinen sich dabei traditionelle gesellschaftliche Ressourcen der sozialen Bindung zunehmend erschöpft zu haben. Die dafür angeführten Gründe sind zahlreich: in der flexibilisierten Berufswelt die zunehmende Unsicherheit der sogenannten Erwerbsbiographien; das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich bzw. präziser zwischen Arbeitsplatzbesitzenden und Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten; in der politischen Arena zurückgehende Verankerung einer demokratischen Kultur, um die Prozesse der politischen Willensbildung mit Leben zu füllen; im Hinblick auf die Kultur die Tatsache, dass alle kulturellen Erzeugnisse aufgrund ihrer Warenförmigkeit einen Sinnverlust erlitten haben und die interkulturelle Integration stets prekär bleibt; oder schließlich im Hinblick auf religiöse Sinnstiftungssysteme die durch die Privatisierung des Glaubens mangelnde Hanlungsorientierung in einer säkularisierten Gesellschaft. Der dadurch ausgelöste Wandlungsprozess wird von vielen gesellschaftlichen Akteuren als ein Verlust an sozialem Zusammenhalt erfahren. Vielfach wird daher die Frage gestellt, ob und wenn ja welche neuen Formen der sozialen Bindung an die Stelle der alten treten können. Ist Gemeinschaftlichkeit in einer (post-)modernen Welt überhaupt noch möglich? Unter welchen Bedingungen lassen sich Pluralität und Solidarität miteinander vereinbaren? Oder ist mit der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Individualisierung die Idee der sozialen Zusammengehörigkeit selbst zum Anachronismus geworden? Um diese Fragen zu beantworten verfolgt der vorliegende Band drei Zielsetzungen: Das grundlagentheoretische Vorhaben besteht in einer Klärung, Ausdifferenzierung und Systematisierung unterschiedlicher Konzeptionen des sozialen Bandes; das zeitdiagnostische Vorhaben zielt auf eine Untersuchung gegenwärtiger Erosionen von sozialen Bindungen und das explorative Vorhaben auf die Aufdeckung und Sichtbarmachung von alternativen Formen der Sozialintegration. Um diese Ziele zu erreichen, haben wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Bereichen (Philosophie, Soziologie, Politologie, Ethnologie, Kulturwissenschaften) eingeladen. Der Großteil der hier publizierten Beiträge geht dabei auf Vorträge und Diskussionen zurück, die auf einer Tagung im März 2015 an der FernUniversität in Hagen stattgefunden haben. Diese wurden um weitere Beiträge ergänzt. Die Herausgeber haben für die Verwirklichung ihres Vorhabens nicht nur der FernUniversität für die Förderung der Tagung und der Drucklegung, sondern auch allen Mitarbeitenden am Lehrgebiet Philosophie III zu danken, deren weit überdurchschnittliches Engagement Tagung und Publikation möglich gemacht haben: Dennis Claussen, Christoph Düchting, Selin Gerlek und Christoph Manfred Müller. Ein besonderer Dank gilt Selin Gerlek und Philipp Zimmermann für die Erarbeitung der Übersetzungen sowie Sarah Kissler für ihre Sorgfalt und ihren Scharfblick bei der redaktionellen Fertigstellung des Manuskripts. Den Autorinnen und Autoren dürfen wir schließlich für ihre Bereitschaft zum interdisziplinären Dialog danken. Thomas Bedorf und Steffen Herrmann Hagen, im Juni 2016 Das Gewebe des Sozialen. Geschichte und Gegenwart des sozialen Bandes Thomas Bedorf und Steffen Herrmann Ein Band soll zusammenhalten, was auseinanderzufallen droht. Das sorgsame Binden kann dabei schnell ins zwanghafte Einschnüren übergehen, woran sich zeigt, dass das, was zusammengebunden werden soll, nicht immer zusammengebunden werden will. Auf eben diese Weise verhält es sich auch mit unseren sozialen Bindungen: Was den einen als gemeinschaftlicher Halt erscheint, ist den anderen schon Fessel. Deutlich wird damit, dass Bindung kein Wert an sich ist und ihre Bewertung vom Kontext und der jeweiligen Qualität der Beziehung abhängt. Entsprechend wird die Rede vom sozialen Band in unserer Alltagssprache auf ganz unterschiedliche Weise geführt. So wird der Begriff zunächst einmal auf verschiedene gesellschaftliche Sphären angewandt: Wir sprechen von den Banden der Familie, der Freundschaft und der Verwandtschaft, wir sprechen aber auch von der Kleingruppe als einem Verband und schließlich auch vom Band der Gesellschaft und gar der Menschheit überhaupt. Unsere Rede vom sozialen Band kennt darüber hinaus ganz unterschiedliche Temporalitäten: Das soziale Band soll uns in der unmittelbaren Interaktion in Kontakt halten, mittelfristige Bindungen ermöglichen und gar lebenslange, dauerhafte Verknüpfung herstellen. Ferner kann das Medium der sozialen Bindung ganz unterschiedlicher Art sein: Sei es die affektive Ansteckung, die leibliche Synchronisierung oder die sprachlich erzielte Verständigung - auf all diese Weisen treten Individuen in Verbindung. Dass der Begriff des sozialen Bandes für die Sozialtheorie seit jeher einen fruchtbaren Begriff ergibt, zeigt sich daran, dass er im Mittelpunkt einer ganzen Reihe von disziplinären Gründungstexten steht. So formuliert etwa Platon im Timaios eine Leitidee, die auch für seine politische Philosophie grundlegend ist, mit den Worten: "Zwei Dinge allein aber ohne ein drittes wohl zusammenzufügen ist unmöglich, denn nur ein vermittelndes Band (desmon en meso) kann zwischen Beiden die Vereinigung (amphoin synagogon) bilden. Von allen Bändern aber ist dasjenige das schönste, welches zugleich sich selbst und die durch dasselbe verbundenen Gegenstände möglichst zu Einem macht." Ebenso nimmt das soziale Band in einem Gründungstext der Sozialphilosophie, nämlich Jean-Jacques Rousseaus Contract Social (1762) eine zentrale Rolle ein, wenn es heißt: "Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das soziale Band (lien social), und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben." In der Soziologie wiederum macht Émile Durkheim mit seinem einschlägigen Text Über soziale Arbeitsteilung (1893) das "soziale Band" zum Gegenstand einer vergleichenden Analyse unterschiedlicher Sozialitätsformen. Und für die moderne Sozialanthropologie erklärt Bronislaw Malinowski in seinem einschlägigen Werk Argonauten des westlichen Pazifik (1922) die Untersuchung der "Bande sozialer Gruppenbildung" zum zentralen Gegenstand seiner Arbeit. Die Rede vom sozialen Band findet sich also am Anfang der politischen Philosophie, der Sozialphilosophie, der Soziologie und der Sozialanthropologie. Mehr noch: Das soziale Band wird hier nicht einfach nur erwähnt, sondern es bildet das eigentliche Thema jener Disziplinen, die durch die genannten Werke ins Leben gerufen worden sind. Entsprechend wird man erwarten, dass der Begriff selbst hier ausführlich zum Gegenstand der Reflexion geworden ist. Doch so verwunderlich es klingen mag, gerade hier gilt es Grundlagenarbeit zu leisten: Obgleich der Begriff des sozialen Bandes in der Sozialtheorie häufig gebraucht wird, ist er selbst und seine Geschichte kaum einmal zum expliziten Gegenstand der Reflexion geworden. Dieses Desiderat aufgreifend, wollen wir in unserem einleitenden Beitrag eine Skizze der Geschichte und der Gegenwart des sozialen Bandes zeichnen. Eine heuristische Orientierung im Theoriefeld lässt sich dabei mit Hilfe der Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen sozialen Bindungen gewinnen. Während erstere den Zusammenschluss zwischen einzelnen Individuen thematisieren, wird mit letzteren die Bindungen zwischen den Individuen und den gesellschaftlichen Institutionen, in denen sie leben zum Gegenstand. Obwohl horizontale und vertikale Bindungen in unserer Lebenswelt immer kreuzweise zu ei...