Beschreibung
Was Max Weber bereits vor fast 100 Jahren feststellte, trifft auch heute noch zu: Wissenschaftliche Karrieren in Deutschland sind riskante Glücksspiele - sie sind Hasard. Anhand aktueller Befunde zeigt der Band, wie Hochschulen, Forschungsförderung sowie Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit ihrer Karriere als Risikopassage umgehen. Dabei nimmt er eine kritische Perspektive auf hochschulpolitische Instrumente der Qualitätssicherung, Nachwuchsförderung oder Professionalisierung ein.
Autorenportrait
Julia Reuter ist Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität Köln. Dr. Oliver Berli und Manuela Zinnbauer sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter.
Leseprobe
Wissenschaftliche Karriere als Hasard. Eine Sondierung Julia Reuter, Oliver Berli und Manuela Tischler 1. Wissenschaftliche Karriere als Hasard - Zur anhaltenden Aktualität einer Problemdiagnose Karrieren in der Wissenschaft sind ein Hasard: Diese Problemdiagnose wird gegenwärtig in verschiedenen Arenen und von verschiedenen Akteuren verhandelt. In den Medien ist von Resignation, Überbelastung und einer hohen Ausstiegsneigung von Universitätsangehörigen als Folge der gegenwärtigen Beschäftigungsbedingungen die Rede, von Seite des so genannten wissenschaftlichen Nachwuchses werden Petitionen ins Leben gerufen, in denen neben der Problematik befristeter Arbeitsverhältnisse auf die zunehmende Unsicherheit wissenschaftlicher Karrierewege hingewiesen wird, Fachgesellschaften befassen sich mit der Thematik ebenso wie es von Seiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung Vorstöße gibt, den Unmut in programmatische Forderungen zu gießen. Neben den genannten Akteuren bieten auch etablierte Wissenschaftler_innen Beschreibungsformeln - wie etwa akademischer Kapitalismus (Münch 2011) - für die diagnostizierten Phänomene an. Die beobachtbare Vielfalt der beteiligten Akteure wird durch die Übereinstimmungen in den Problembeschreibungen abgemildert. Neben der durchgängigen Betonung der negativen Entwicklungen im deutschen Wissenschaftssystem und deren Effekte auf Wissenschaftskarrieren wird damit - mehr oder weniger implizit - immer auch die normative Frage "was ist gute Arbeit?" mitverhandelt. Tritt man einen Schritt von diesen aktuellen Problemdiagnosen zurück, lässt sich erkennen, dass zentrale Aspekte der gegenwärtigen Kritik keineswegs neue Problembeschreibungen sind. Vielmehr gehören Unplanbarkeit und Risikohaftigkeit zu den wiederkehrenden Schwerpunkten der Thematisierung wissenschaftlicher Karrieren. Um auf die anhaltende Relevanz dieser Problematik hinzuweisen, greift der Titel des vorliegenden Bandes auf eine Formulierung Max Webers zurück, der in seiner Rede "Wissenschaft als Beruf" vor annähernd 100 Jahren Wissenschaftskarrieren mit dem Begriff des "Hazards" umschrieb (1988 [1919]). In dieser Rede benennt Weber mehrere Bedingungen des Gelingens wissenschaftlicher Karrieren, gleichwohl räumt er dem Zufall besondere Relevanz ein: "Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Maße. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine so große Rolle spielt" (1988 [1919]: 585). Wenn auch der Verweis auf Weber nicht fehlen darf, sobald im deutschsprachigen Raum über Wissenschaftskarrieren gesprochen bzw. geschrieben wird, muss doch - mit Reinhard Kreckel (2013) gesprochen - auf die "unzeitgemäße Aktualität Max Webers" hingewiesen werden. Die deutsche Universität, wie sie Weber in seiner Rede vor Augen hatte, ist seitdem vielen Veränderungen unterworfen gewesen. Damit hat sich auch das Bild wissenschaftlicher Karrieren gewandelt. Während Weber den Beginn der wissenschaftlichen Laufbahn in der Privatdozentur (1988 [1919]: 583) sah und vor allem einen spezifischen Ausschnitt wissenschaftlicher Karrieren fokussierte - den Übergang vom Status des Privatdozenten auf eine ordentliche Professur - wird heutzutage in der Hochschul- und Wissenschaftsforschung der Startpunkt einer wissenschaftlichen Karriere meist schon in früheren Karrierestufen verortet. Die Privatdozentur ist nicht mehr, oder präziser: nicht mehr in allen Disziplinen die notwendige Vorstufe zur Erlangung von Berufbarkeit, was die Auffächerung von Karrierewegen befördert hat. Neben der Pluralisierung und Differenzierung von wissenschaftlichen Karrierewegen, etwa durch neue Personalkategorien und Qualifizierungsmöglichkeiten, zählen zu den bedeutsamen Veränderungen auch die Ausweitung des sogenannten Mittelbaus (vgl. Enders 1996) bis hin zur heutigen Personalstruktur an deutschen Universitäten, die im internationalen Vergleich ein deutliches Missverhältnis zwischen befristeten und unbefristeten Stellen aufweist (bspw. Kreckel/Zimmermann 2014). Mit diesen Entwicklungen ist auch eine verschärfte Konkurrenz- und Wettbewerbssituation unter den Beschäftigten verbunden. Denn in letzter Konsequenz gleicht der wissenschaftliche Arbeitsmarkt in Deutschland einem winner-take-all-Markt (vgl. Rogge 2015). So verweisen zeitdiagnostische Befunde vor allem auf die anhaltende Aktualität der Problemdiagnose, Wissenschaftskarrieren seien Hasard. Denn berufliche Unsicherheit und Kompetitivität ebenso wie langwierige Qualifizierungsverläufe, ausgeprägte Hierarchien und eine hohe Selektivität sind bis heute konstitutive Merkmale wissenschaftlicher Karrieren. Um die berufliche Unsicherheit wusste aber auch schon Weber, wenn er in seinem Vortrag darauf hinweist, dass neben den beruflichen auch finanzielle Risiken zur Universitätslaufbahn gehören: "Denn es ist außerordentlich gewagt für einen jungen Gelehrten, der keinerlei Vermögen hat, überhaupt den Bedingungen der akademischen Laufbahn sich auszusetzen. Er muß es mindestens eine Anzahl Jahre aushalten können, ohne irgendwie zu wissen, ob er nachher die Chancen hat, einzurücken in eine Stellung, die für den Unterhalt ausreicht." (1988 [1919]: 583) Unter diesen Bedingungen ist von einer hohen sozialen Selektivität des Hochschulpersonals auszugehen, die historisch angelegte Studien belegen. Hier ist etwa Martin Schmeisers Untersuchung zum "akademischen Hasard" (1994) zu nennen, in der 50 Berufsbiographien von Professoren an deutschen Universitäten zur Jahrhundertwende (1870-1920) rekonstruiert werden. Diese und andere Studien (bspw. Weber 1984) zeigen sehr deutlich, dass wissenschaftliche Karrieren immer schon hoch selektiv und mit erheblichen Risiken des Scheiterns verbunden waren: Den angehenden Professoren wurde schon damals nicht nur eine hohe Frustrationstoleranz abverlangt, sondern das Berufsziel bedeutete auch einen jahrelangen Verzicht auf eine normale bürgerliche Existenz inklusive Familiengründung. Die Entscheidung für eine wissenschaftliche Karriere war somit auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Entscheidung für eine riskante Berufslaufbahn und eine entbehrungsreiche Zeit voller emotionaler Spannungen. Vor dieser vielschichtigen Ausgangslage stellt sich die Frage, was die heutige Diskussion um wissenschaftliche Karrieren als Hasard an neuen Einsichten bringen kann. Eine notwendige Schärfung des Blicks leistet sicherlich die vergleichende Beschäftigung mit akademischen Karrierestrukturen und Hochschulsystemen, die den differenierenden Grad an Institutionalisierung des Hasards in der Organisation von Laufbahnen veranschaulichen. So unterscheiden sich Karrierebedingungen in Deutschland, Kreckel und Zimmermann (2014) zufolge, in vielerlei Hinblick von Karrierestrukturen in anderen Ländern, wie z.?B. in den USA, Großbritannien, Frankreich: Sie sind riskanter, weil es hierzulande nach wie vor eine hohe normative Orientierung am historisch tradierten Habilitationsmodell gibt - selbst in Fächern, in denen die kumulative Habilitation eingeführt wurde. Dies führt zu einer extrem ausgedehnten Qualifikationszeit, einem hohen Lebensalter der Habilitierenden, einer späten Selbständigkeit in Lehre und Forschung und einer ungeklärten Situation der nicht berufenen Privatdozent_innen (ebd.: 35). Weder Neuerungen, wie z.?B. die Einführung der Stellenkategorie der Juniorprofessur, noch Exzellenzinitiativen oder die Internationalisierungsbemühungen deutscher Hochschulen haben daran etwas geändert. Für die Postdoc-Phase steht in Deutschland nach wie vor die Qualifizierungsaufgabe im Vordergrund, weshalb Postdoc-Stellen typischerweise befristet besetzt werden (vgl. ebd.: 41). So macht die Gruppe der befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen (Nachwuchsgruppenleiter_innen und Drittmittelbeschäftigte eingeschlossen) in Deutschland immerhin fast 80?% des gesamten wissenschaftlichen Personals aus. Kein anderes Land leistet sich diese Unverhältnismäßigkeit, die neben der Verschärfung der Konkurrenz auch eine sp...