0

Ehre und Rache

Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts

Erschienen am 16.02.2017, 1. Auflage 2017
39,95 €
(inkl. MwSt.)

Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593507200
Sprache: Deutsch
Umfang: 437 S.
Format (T/L/B): 2.6 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Nach gängiger Auffassung entstand der Rechtsstaat durch die Zähmung der barbarischen Natur des Menschen: Archaische und vormoderne Gesellschaften seien von Konflikten um Ehre und Rache regiert worden, deren Macht im langwelligen Prozess der Zivilisierung gebrochen wurde. Durch Aufklärung und Modernisierung sei die von den Ehrgefühlen entzündete Gewalt wieder eingehegt worden und Humanität an die Stelle der Triebnatur des Menschen getreten - so die gängige Annahme. Dieses Buch zeigt am Beispiel der griechischen Antike auf, dass die Gefühle, die wir gemeinhin mit Ehre und Rache verbinden, durch das antike Recht überhaupt erst geschaffen wurden. Es leistet einen wichtigen Beitrag zu einer politischen Theorie der Wirksamkeit des Rechts und fügt der Gewaltgeschichte des Menschen in der frühgriechischen Antike eine unerwartete Wendung hinzu.

Autorenportrait

Philipp Ruch ist Philosoph und Gründer des Zentrums für Politische Schönheit.

Leseprobe

Einleitung Gegenstand und Zielsetzung der Untersuchung Aus der Geschichte der Physik ist die Erkenntnis überliefert, dass ein und dasselbe Naturphänomen, unter zwei Paradigmen betrachtet, mehr oder minder widerspruchsfrei als vollkommen unterschiedlichen Gegenstandsbereichen zugehörig wahrgenommen und konzeptualisiert werden kann. Zwei Physiker aus gegensätzlichen Schulen können denselben Untersuchungskörper vor Augen stellen und Unterschiedliches sehen. Als Thomas KUHN sich damit auseinandersetzte, was wissenschaftstheoretisch geschah, als die Idee des Gases vor dem geistigen Auge des Physikers hin-zutrat, gibt er seinen Beobachtungen die Form eines Arbeitsauftrages: "nicht nur das Gas selbst zu sehen, sondern auch, was das Gas war." Die vorliegende Arbeit ist nach diesem Auftrag gegliedert. Es wird auf die Erkenntnis ankommen, dass Ehre ist und was sie ist. KUHN bezeichnet den Augenblick, in dem ein Physiker zum ersten Mal das Gas sieht, als "Gestaltwandel" - als Kipppunkt, an dem die alte Wahrnehmung in die neue umschlagen kann. Zwar wird immer wieder bestritten, dass es historisch jemals zu abrupten Umschwüngen in den Naturwissenschaften kam (vielmehr soll sich die alte Vorstellung mit den Implikationen einer neuen Theorie überlagert haben und vermischen), aber gerade aus der Rückschau existiert die Wahlmöglichkeit zweifelsohne, die Welt unvermittelt mit und ohne Gastheorie zu betrachten. Der Begriff Ehre enthält vielleicht diese seltene Gelegenheit, die Welt des Politischen mit anderen Augen wahrzunehmen und die neue in eine alte Welt umschlagen zu lassen. Der Vexierpunkt bedarf allerdings der Vorbereitung, des Sehen-Lernens und der Verabschiedung von herkömmlichen Vorstellungen über die Natur von Ehre und Rache. Analog zu den physikalischen Kernbegriffen Kraft, Raum, Masse und Energie stellen sich auch beim politikwissenschaftlichen Pendant Ehre Verständnis- und Übertragungsschwierigkeit ein. Das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften scheint nicht auf Prestige, Reputation, Ansehen oder Anerkennung zu gründen, wie sich älteren Autoren die Macht der Ehre aufdrängt. Äquivalenzbegriffe decken die Eigenschaften eines alten Schlüsselbegriffs gemeinhin zu. Zusatzbegriffe wie Nachhaltigkeit reichen nicht an das antike Interesse an Unvergesslichkeit heran, das teilweise in den Quellen aufscheint. Es kommt zu einer Spannung zwischen Begriffs- und Phänomenaktualität, die zu Irrtümern und Unterstellungen führt. Dieser Bedeutungsverlust wirkt sogar retroaktiv auf die Erforschung der Geschichte zurück. Das Lemma Ehre kommt in zahllosen Nachschlagewerken wie im Metzler-Lexikon Antike schon gar nicht mehr vor. Otto BRUNNER weist darauf hin, dass die Begriffe, welche Geisteswissenschaftler gedankenlos aus der Alltagssprache aufgreifen und auf das historische Material anwenden, stets Teil des Erkenntnisproblems sind. Die bekannten Begriffe bringen zu Fall, was eigentlich ergriffen werden sollte. Sie sägen das menschliche Verhalten auf Bekanntes nach anderen Vorstellungen zurecht. Deshalb fällt BRUNNERS Wahl bewusst nicht auf einen der hegemonialen politikwissenschaftlichen Deutungsbegriffe wie Macht oder Prestige, sondern er reaktiviert die Originale Ehre und Fehde, um das politische Verhalten einer vergangenen Zeit einzuholen: "Jede politische Geschichte des Mittelalters, die an der Fehde vorbeisieht, versperrt sich selbst den Zugang zu Einsichten, aus denen politisches Handeln im Mittelalter erst verstanden werden kann." Was zunächst aufgegeben werden muss, ist die Selbstgewissheit überlegener historischer Einsichten. Wie Frank J. FROST darstellt, ist das Wesen der attisch-adligen Politik in frühklassischer Zeit "dominated not by motives of economic gain and certainly not by political ideology, but by pride, honor, self-esteem and the respect of others". In modifizierter Form, aber am deutlichsten, zeichnet Jean-Marie MOEGLIN den epistemologischen Anspruch vor, indem er die Ehre von Politikern für mehr hält "als lediglich eine anekdotische und leicht veraltete Arabeske; sie bestimmte - neben den sehr realen territorialen Einsätzen - zentral ihr politisches Handeln." Die Ehre sei - genauso wie ihre Wiederherstellung durch Rache (oder Fehde) - als politische Kategorie unverzichtbar, um Verhalten zu interpretieren, Entscheidungen zu erklären und Prognosen zu wagen. Als hätte MOEGLIN den Erkenntnisauftrag KUHNS vernommen, nämlich sehen zu lenen, dass Gas ist und was es ist, bezeichnet er Ehre als Kategorie, in der und durch die alles geschieht. Ehre und Rache bilden tragende und tragfähige Fundamente des Politischen. Die Entscheidung, sich moderneren Begriffen zu verweigern (die Nachkommenden ebenso befremdlich erscheinen dürften ) und auch keinen neuen Begriff mit altem Quellenmaterial anzureichern, sondern stattdessen einen alten Denkhorizont, ein altes Paradigma, zu rekonstruieren, soll Ernst machen mit dem geisteswissenschaftlichen Pendant naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung: untergegangene Schlüsselkategorien kommen zu neuem Recht, nicht nur um das Alte begreif- und erkennbar zu machen, sondern um in ihnen die eigene Zeit sehen zu lernen. Mit überalterten Begriffen kann am politischen Geschehen der Gegenwart etwas sichtbar werden, das bislang unkenntlich geblieben ist. Der Anspruch, mit aktuellen Begriffen in die Vergangenheit zu leuchten, lässt sich so auf den Kopf stellen, "denn die Vergangenheit birgt wertvolle Kräfte zum Aufbau der Gegenwart und Zukunft." Erkenntnisse werden mitunter weniger dadurch gewonnen, moderne Begriffe der Geschichte aufzunähen, als in scheinbar antiquierten Begriffen die Moderne zu betrachten und durch interpretatio moderna einen Beitrag zur Bewältigung der Gegenwart zu leisten. Es ist zumindest prüfenswert, ob einstmals "gefundene Antworten nicht nur modern anmuten, sondern es in vielem auch (noch) sind." Selbsterkenntnis wird durch vergangene Begriffe nicht erschwert, sondern erleichtert. Antiquierte Begriffe reißen den Menschen aus seiner Zeit und stellen ihn auf einen anderen Boden. Die Verheißung ist daher, dass die Ehre anderes und mehr sehen lässt - an der Vergangenheit ohnehin, aber auch an Gegenwart und Zukunft. Als ersten Begriff, der aus der dystopischen Kunstsprache Neusprech verschwindet, nennt George ORWELL - vor den politischen Schlachtbegriffen Gerechtigkeit, Moral, Demokratie oder Wissenschaft - den der Ehre. Georg SIMMEL warnt vor diesem Verschwinden: "Eine Gesellschaft, in der der Ehrbegriff verschwände, würde damit ihren sittlichen Verfall bekunden und ihren äusserlichen einleiten." Auch Bernard Mandeville ist die Ehre das verlässlichste Bindemittel des body politic. Ohne sie sagt er der Menschheit voraus, "innerhalb großer Gemeinschaften bald zu tyrannischen Schurken und zu verräterischen Sklaven" auszuarten. Nun lassen sich die Zeitdiagnosen, nach denen die sittlichen Grundlagen der modernen Gesellschaft erodiert sein sollen, kaum noch zählen. Aber ORWELLS apokalyptische Vision einer Gesellschaft, die den Begriff Ehre nicht mehr versteht, ist Wirklichkeit geworden. In früheren Gesellschaften ist Ehre eine "absolute[n] Herrscherin über die sozialen Beziehungen", ein Schlüsselbegriff "zum Verständnis des Funktionierens von Ordnungssystemen", der "Knotenpunkt sozialhistorischer Forschungsmöglichkeiten", - und zwar grundlegend für das "Selbstverständnis als auch für den Zusammenhalt der Gemeinschaft". Im 21. Jahrhundert ist Ehre dagegen weit davon entfernt, die "Ordnungs-grundlage" des Daseins zu bilden. Ehre wie öffentliche Schande scheinen "in modernen westlichen Gesellschaften und wissenschaftlichen Diskursen eine geringe Rolle zu spielen". Sind wir Menschen ohne Ehre? In der Selbstbeschreibung von Individuen oder Staaten taucht der Begriff selten auf. Die postheroische Gesellschaft ist im Kern eine "posthonor society", wenngleich deutsche Politiker das semantische Potenzial von Ehrenwörtern unlängst ausbeuteten, um sich als Männer von Ehre zu inszenieren, ...