Beschreibung
In Lehr- und Therapiebüchern wird die Diagnostik und Therapie einzelner, häufig klar umrissener Krankheits- und Störungsbilder erläutert. In der klinischen Praxis sieht man dagegen überwiegend Patienten, die unter einer Kombination von verschiedenen Störungsbildern leiden. Besonders im stationären Bereich sind das häufig strukturelle Persönlichkeitsstörungen in Kombination mit weiteren Erkrankungen wie zum Beispiel Phobien oder Depressionen. Diese Patienten galten lange als unbehandelbar. Sie leiden unter einer verzerrten Wahrnehmung ihrer selbst und anderer Menschen oder der Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Ihre Störungen manifestieren sich überwiegend in der sozialen Lebenswelt, in der Beziehung zu anderen Menschen. Hier setzt die psychoanalytisch- interaktionelle Methode an. Sie verlangt vom Therapeuten eine diagnostische und therapeutische Herangehensweise, die auf das Verhalten des Patienten in sozialen Situationen, im Umgang mit anderen und dem Therapeuten fokussiert. Im Vordergrund der Therapie steht deshalb das Bemühen um entwicklungsförderliche zwischenmenschliche Beziehungen.
Autorenportrait
Ulrich Streeck, Prof. Dr. med. habil., M. A., Arzt fur Psychiatrie und Psychotherapie, Arzt fur psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist Psychoanalytiker, Soziologe und Sozialpsychologe; ehem. Arztlicher Direktor der Klinik Tiefenbrunn in Rosdorf bei Gottingen.
Leseprobe
1. Einleitung Wenige Tage nachdem ich meine erste Stelle als Medizinalassistent in der Psychiatrie angetreten hatte, wurde in der Mittagszeit, als ich allein mit einem Pfleger auf der Station war, ein großer, kräftiger Mann in angespanntem und erregtem Zustand von zwei Polizisten auf die Station gebracht. Nachdem die Polizisten berichtet hatten, dass der Mann in einem öffentlichen Gebäude randaliert habe und verwirrt erschienen war, verließen sie die Station, und ich war mit dem Patienten, der unruhig auf und ab lief und gelegentlich laut schimpfte, allein im Untersuchungszimmer. Ich wollte ein Gespräch anfangen und versuchen, den Zustand des Mannes zu verstehen. Der schien mich nicht zu beachten und schimpfte weiter vor sich hin, um sich plötzlich in drohender Pose vor mir aufzubauen. Als ich merkte, in welcher Lage ich war, packte mich heftige Angst. In diesem Moment kam der Pfleger, der schon viele Jahre in der Psychiatrie tätig war, in das Untersuchungszimmer, ging auf den immer noch verwirrt erscheinenden Patienten zu, deutete auf einen Stuhl und sagte in ruhigem, aber entschiedenem Ton: 'Setzen Sie sich bitte dort hin.' Einen kurzen, aber spannungsreichen Moment lang zögerte der Patient. Dann setzte er sich zu meiner Verwunderung auf den Stuhl, den der Pfleger ihm angewiesen hatte. Diese Szene, die sich vor mehr als 30 Jahren ereignet hat, ist mir bis heute fotografisch genau im Gedächtnis geblieben. Es war offensichtlich, dass es dem Pfleger weder mit irgendeinem instrumentellen Verhalten noch mit Hilfe irgendwelcher technischen Mittel gelungen war, die Situation zu entschärfen, sondern dass er die Situation genau erfasst und sich sensibel auf den Patienten abgestimmt hatte. Jahre später, als mich die Bedeutung von nichtsprachlichem Verhalten in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen zu beschäftigen begann, wurde mir die Bedeutung eines weiteren, scheinbar nebensächlichen Details dieser Szene deutlich: der Umstand, dass der Pfleger, während er den Patienten aufgefordert hatte, sich hinzusetzen, sich nicht etwa vor ihn hingestellt hatte, sondern im Gegenteil zur Seite getreten war, so dass aus der Sicht des Patienten der Weg zur Tür des Untersuchungszimmers frei war und er, wenn er gewollt hätte, ohne Schwierigkeiten aus dem Raum hätte herauslaufen können. In der weiteren Zusammenarbeit mit diesem Pfleger lernte ich dessen Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Menschen zu schätzen, die er mir allerdings nie mit Worten vermittelte, sondern über die ich viel erfuhr, indem ich meinerseits möglichst genau zu erfassen versuchte, was zwischen den Patienten und ihm geschah. Hätte ich ihn gefragt, weshalb er sich in der Szene im Untersuchungszimmer mit dem Patienten so verhalten hat, wie er das getan hat, hätte er mir über den allgemeinen Hinweis auf seine Erfahrungen hinaus vermutlich keine plausiblen Gründe dafür nennen können. Aus heutiger Sicht würde man die Störung des Patienten am ehesten als eine Achse I- und Achse II-Störung in Komorbidität klassifizieren. Wäre eine derartige Diagnose in der damaligen Situation aber in irgendeiner Weise nützlich gewesen? Sicherlich nicht. Die Beobachtung, dass der Pfleger dem Patienten zugewandt, aber unmissverständlich Grenzen gesetzt hatte, ohne ihn zu bedrohen oder zu überwältigen, und dass er dem Patienten mit seinem nichtsprachlichen Verhalten, seinem Zur-Seite-Treten, gezeigt hatte, dass er die Situation in Grenzen mit gestalten kann, haben mich mehr darüber gelehrt, wie eine förderliche therapeutische Situation geschaffen werden kann und in welchem Maße dazu die jeweils aktuellen Umstände erfasst werden müssen, als alles diagnostisch-klassifikatorische Wissen das jemals vermocht hätte. Von der Beobachtung dieser Szene zwischen dem Pfleger und dem Patienten hat meine Überzeugung ihren Ausgang genommen, die sich in den folgenden Jahrzehnten meiner klinischen Arbeit vielfach bestätigt hat, dass Psychotherapie nicht darin besteht, bestimmte Behandlungsmethoden an einem Patienten, dessen Störung zuvor diagnostiziert wurde, anzuwenden, sondern dass psychotherapeutisch zu arbeiten heißt, sich mit seinem Patienten auf einen fortlaufenden Prozess entwicklungsförderlicher Kommunikation und Interaktion reflektiert einzulassen. Was Freud von der psychoanalytischen Behandlung gesagt hatte, dass sie nämlich 'ein Gespräch' sei, in dem nichts anderes vorgehe als ein 'Austausch von Worten', gilt auch für psychotherapeutische Methoden, die von der Psychoanalyse abgeleitet wurden, auch sie sind 'ein Gespräch', 'Austausch von Worten'. 'Das Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht' (Freud 1916/17, S. 43), ist aber nicht das gleiche wie das Gespräch, das Patient und Psychotherapeut miteinander führen, wenn es um eine psychoanalytisch orientiert genannte Behandlung geht oder um eine Fokaltherapie, und noch einmal anders sprechen beide in einer psychoanalytisch-interaktionellen Therapie miteinander. Demnach unterscheiden sich psychotherapeutische Methoden darin, wie Patient und Therapeut ihre Interaktion und ihren 'Austausch von Worten' im Kontext ihrer Interaktion gestalten und welche Mittel sie dazu verwenden. Indem beide sich hier wie dort auf unterschiedliche Praktiken stützen und andere Wege einschlagen, wenn sie miteinander reden, gestalten sie auch ihre Beziehung, die therapeutische Beziehung, hier anders als dort. Wenn dargestellt werden soll, worin sich verschiedene psychotherapeutische Methoden voneinander unterscheiden, geschieht das meist unter Verweis auf Merkmale des Behandlungssettings oder der therapeutischen Technik, etwa auf die Dauer der Behandlung, die Stundenfrequenz oder auf Aspekte, die die Handhabung der Übertragung betreffen oder den Umgang mit Deutungen. Wenn Psychotherapie aber ein Gespräch ist, dann ist zu erwarten, dass sich methodische und behandlungstechnische Unterschiede zunächst einmal in Eigentümlichkeiten des therapeutischen Gesprächs, des Austausches von Worten konkretisieren und damit auch in der therapeutischen Beziehung, die Patient und Psychotherapeut gestalten, indem sie miteinander kommunizieren. Wenn Psychotherapeuten über ihre Arbeit sprechen, erwähnen sie jedoch eher selten, wie genau das Gespräch mit dem Patienten verlaufen ist und wie beide ihren Austausch von Worten gestaltet haben. Eher sagen sie beispielsweise, dass sie in der therapeutischen Arbeit mit einem Patienten 'die Entwicklung einer positiven Übertragung gefördert', einen 'sicheren Bindungskontext aufgebaut', das 'Spielen mit der inneren und äußeren Realität angeregt' oder 'neue Systemregeln gefunden' haben. Tatsächlich lassen solche Beschreibungen therapeutischen Handelns aber nicht erkennen, wie sie dabei miteinander geredet und wie sie sich zueinander verhalten haben. Denn wie genau ihr Austausch ausgesehen hat und wie beide das kommunikative Geschehen im Behandlungszimmer gestaltet haben, so dass in der Folge 'die Übertragung positiver', 'der Bindungskontext sicherer' oder der 'Umgang mit Realität spielerischer' geworden sind, und aus welchen Merkmalen ihres Gesprächs auf solche Veränderungen geschlossen werden kann, lässt sich daraus nicht ablesen. Wie aber anders als durch das Gespräch, durch den 'Austausch von Worten' zwischen Patient und Therapeut, sollte das alles geschehen sein, wie anders als durch die Art und Weise, wie sie das getan haben, und nicht allein durch die Inhalte, über die sie gesprochen haben? Denn Übertragungen zu fördern, Beziehungskontexte aufzubauen, Spielen mit der Realität anzuregen oder Systemregeln zu finden, ist kein instrumentelles Verhalten, sondern muss sich notwendigerweise über das Gespräch zwischen Patient und Therapeut vermittelt haben, über ihr kommunikatives Handeln. Die Aussage, dass Psychotherapie die Anwendung einer Behandlungsmethode am Patienten sei, ist in hohem Maße abstrakt. Was auch immer der Patient fühlt und denkt und was auch immer der Psychotherapeut beabsichtigt, mu...
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Persönlichkeitsstörungen sind immer auch soziale Störungen