Beschreibung
Seit Jahrzehnten empfinden sich die Deutschen als gefühlte Opfer und vertrauen seit der Rede Richard von Weizsäckers 1985 dem Versprechen, Erinnerung führe zu 'Erlösung'. Diese Erinnerungsmoral untersuchen Ulrike Jureit und Christian Schneider historisch, geistesgeschichtlich und psychoanalytisch. Ihr Fazit: Eine vollkommene 'Vergangenheitsbewältigung' bleibt eine Illusion.
Autorenportrait
Ulrike Jureit, Dr. phil., Historikerin, Hamburger Institut für Sozialforschung, Sprecherin der zweiten Wehrmachtsausstellung. Christian Schneider, geboren 1951, Dr. phil. habil., Privat dozent an der Universität Kassel; zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich psychoanalytischer Kulturtheorie.
Leseprobe
ULRIKE JUREIT UND CHRISTIAN SCHNEIDER Unbehagen mit der Erinnerung "Nach Auschwitz ist alle Kultur Müll", lautet ein berühmtes Diktum der deutschen Nachkriegsgeschichte. Theodor W. Adorno verband sein brachiales Urteil mit einem pädagogischen Auftrag: Alles sei dafür zu tun, 'daß Auschwitz nicht sich wiederhole'. Seit dieser Zeit prägt das Schreckenswort Auschwitz die Selbstverständigungsdebatten der Deutschen. Und in dessen Schatten haben sich ihre Geschichtsbilder und ihr Geschichtsbewusstsein entwickelt. Die deutsche Vergangenheitsbeschäftigung steht seit jeher unter dem Zeichen einer Wiederholungsphobie: der Angst, die Vergangenheit könne wiederkehren, das abgründig Destruktive der Geschichte wieder gegenwärtig werden. Diese Furcht dominiert nicht nur das Lebensgefühl der nachwachsenden Generation, sie bestimmt auch bis heute Formen und Muster unseres historischen Erinnerns. Norbert Elias beschrieb 1977 die damalige politische Situation in Deutschland als eine Spirale der Selbstzerstörung. Die bundesdeutsche Gesellschaft laufe angesichts terroristischer Anschläge und staatlicher Gewalt zunehmend Gefahr, 'in eine Eskalation der Furcht verwickelt zu werden, in eine polarisierende Eskalation der Konflikte zwischen denen, die die Errichtung einer kommunistischen Diktatur, und denen, die das Wiederkommen einer faschistischen Diktatur in Westdeutschland befürchten'. 1 Diese gesellschaftliche Spaltung, die ihren destruktivsten Ausdruck im Terrorismus der RAF fand, führte Elias auf eine ausgebliebene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zurück, durch die die Bundesrepublik in eine tiefe und zudem generationell strukturierte Identitätskrise geraten sei. Während ein erheblicher Teil derjenigen, die den Nationalsozialismus noch selbst erlebt hatten, so täte, als wenn nichts geschehen sei, hätten sich vor allem nachwachsende Jahrgänge vom politischen System der Bundesrepublik abgewandt und im Marxismus das Gegenmodell zum vermeintlich autoritären Staat gesucht. 'Für das Identitätsbewußtsein dieser jüngeren Generationen als Deutsche', so hielt Elias fest, 'wurde die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dringlicher. Dadurch, daß man ihnen dabei nicht half, daß die offizielle Politik weitgehend dahin ging, die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu vermeiden, trug man nicht nur dazu bei, die gefährliche Hinterlassenschaft Hitlers aus dem Bewußtsein der westdeutschen Bevölkerung zu verbannen, man drängte dadurch besonders auch die intellektuell wacheren jungen Menschen dazu, ihre Identität im Marxismus zu suchen, dem einzigen Gedankengebäude, das ihnen eine Erklärung des Faschismus bereitstellte und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gab zu fühlen, sie hätten mit dieser Vergangenheit nichts zu tun, sie seien frei von jeder Schuld.' Elias markierte damit den gesellschaftlichen Wandel in den 1960er und 1970er Jahren als einen Umbruchs- und Transformationsprozess, den er eng an die generationelle Auseinandersetzung und Weitergabe der nationalsozialistischen Vergangenheit gebunden sah. Dieser gesellschaftliche Konflikt mündete zwei Jahrzehnte nach der Staatsgründung nicht nur in eine soziale, ökonomische und politische Neuerfindung der Bundesrepublik, er brachte auch nachhaltige und für die damalige generationelle Konfliktlage signifikante Muster der Vergangenheitsdeutung und Aufarbeitung hervor. Hierbei sei entscheidend, so Elias, dass jüngere Jahrgänge aufgrund der unverstandenen Vergangenheit dem eigenen politischen System entfremdet blieben und mit dem Marxismus die Hoffnung verbanden, dem Gefühl des Makels und der Schuldgefühle, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, entkommen zu können. Im Ergebnis weist Elias daher darauf hin, 'daß das nationalsozialistische Problem nicht ein Problem der Vergangenheit ist; es hat nie aufgehört, ein aktuelles Problem zu sein'. Diese Aktualität bestätigte sich 1985 erneut, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker aus Anlass des 40. Jahrestages des Kriegsendes in Europa eine in seiner Wirkung wohl kaum zu überschätzende Rede hielt. Bereits kurz, nachdem sie gehalten wurde, war unverkennbar, dass seine Ansprache eine Zäsur in der bundesdeutschen Vergangenheitsaufarbeitung darstellen würde. 'Es geht nicht darum,Vergangenheit zu bewältigen', so Weizsäcker im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. 'Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen.Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung. Gerade deswegen müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben. Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.' Mit dieser Passage lüftete Weizsäcker nicht nur das Geheimnis der Erlösung, sondern er stellte für aufrichtiges Erinnern auch noch Versöhnung in Aussicht - ein verlockendes Angebot für eine Nachkriegsgesellschaft, die sich in der zweiten Generation ohnehin schon intensiv um die Aufarbeitung der überlieferten Schuld bemühte. Das staatspolitisch bekräftigte Erlösungsversprechen bestärkte eine erinnerungspolitische Selbstermächtigung, die seither für die deutsche Erinnerungskultur, wie sie sich seit den 1960er Jahren entwickelt hat, und für das öffentliche Gedenken an Holocaust, Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus prägend wurde. Sowohl an die Überlegungen von Norbert Elias zum generationellen Identitätskonflikt als auch an die Rede Weizsäckers mit ihrem Erlösungsversprechen knüpft dieses Buch an. Es will mit einem kritischen Blick auf die deutsche Erinnerungskultur der letzten fünfzig Jahre ihre signifikanten Erinnerungsmuster und Praktiken analysieren sowie ihre theoretischen Grundlagen und moralischen Referenzen hinterfragen. Dabei geht es nicht darum, den in ihrer Vielfalt und Anzahl mittlerweile kaum mehr zu überschauenden Einzelinitiativen und Projekten nachzugehen, sondern wir wollen eine für das deutsche Gedenken spezifische Gesamtkonfiguration in Augenschein nehmen, die sich begrifflich als opferidentifizierte Erinnerungskultur fassen lässt. Unter dem Titel Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht untersucht Ulrike Jureit im ersten Teil des Buches die gängigen Praktiken des Erinnerns und ihre identifikatorischen Grundmuster. Dabei erweist sich die Figur des gefühlten Opfers für das deutsche Gedenken als strukturbildend, denn der Wunsch der Identifizierung mit den Opfern scheint mittlerweile zur erinnerungspolitischen Norm geworden zu sein. Mit welchen Verständigungs- und Umdeutungsprozessen solche Vereinheitlichungstendenzen einhergehen, zeigt sich am Beispiel des Berliner Mahnmals besonders eindrücklich. Denn das Denkmal ist seit einigen Jahren nicht nur der zentrale Erinnerungsort für die Geschichte des Holocaust, es repräsentiert auch einen Vergangenheitsentwurf, der sowohl politisch als auch ästhetisch durch Identifikation mit den Opfern geprägt ist. Darüber hinaus verdeutlicht das Berliner Mahnmal, dass opferidentifiziertes Erinnern zumindest in Deutschland eine starke generationelle Aufladung besitzt. Ein zweites Grundmuster gegenwärtiger Erinnerungspraktiken ist das Erlösungsversprechen. Die Inanspruchnahme religiöser Gedenkrituale, die zu beobachten ist, hat für die Erinnerung an den Holocaust verhängnisvolle Folgen: Das jüdische Erinnerungsgebot wird nicht nur als Aufforderung zur gemeinschaftlichen Vergegenwärtigung der verbrecherischen Vergangenheit aufgefasst, es wird vielmehr als Vorschrift missverstanden und zudem mit dem chris... Leseprobe
Inhalt
ULRIKE JUREIT UND CHRISTIAN SCHNEIDER Unbehagen mit der Erinnerung ULRIKE JUREIT Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht I. Erinnerung wird zum Gesellschaftszustand: Eine Beobachtung Olympioniken der Betroffenheit: Ein Unbehagen . . Geliehene Identitäten: Die Figur des »gefühlten Opfers« Everything is under Control: Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur II. Erinnerung und Erlösung: Ein Missverständnis Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung: Eine Inanspruchnahme Formen säkularen Erinnerns: Zwischen Abstinenz, Imitation und Irritation III. Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses: Eine Kritik Erinnerungen im Wechselrahmen Assmann & Assmann: Erinnerung als kulturelle Arterhaltung WirGefühle am Abgrund IV. Reichweiten des Erinnerns: Eine Perspektive Sehnsucht nach dem Neuanfang: Generation und Gedächtnis Global denken - global erinnern? Opferidentifikation als europäisches Gemeinschaftsversprechen Wem gehört der Holocaust? Deutungskonflikte in der Weltgesellschaft CHRISTIAN SCHNEIDER Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik V . Grundlagen der Vergangenheitspolitik 1966. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik Die Sprecherposition der »Kritischen Theorie« nach 1945 1968. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse 1967. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern VI . Sigmund Freud: Trauer und Melancholie VII. Trauer und Geschichte. Formen der Erinnerung Norbert Elias: Jeder trauert um seine Toten Kollektive Fehlleistungen VIII. Noch einmal Trauer: Modelle einer anderen Affektkultur Trauer als »Selbstreflexion im verlorenen Anderen« Auf dem Weg zu einer neuen Erinnerungskultur? Anmerkungen
Schlagzeile
Das heikelste Thema der deutschen Zeitgeschichte