Beschreibung
Immer seltener verlaufen Biografien linear in traditioneller Weise. Menschen sind heutzutage konfrontiert mit dauernden Wechseln, was dem Leben den Anschein des Provisorischen und Vorläufigen gibt. Viele Wendepunkte sind nicht vorhersehbar oder verstehbar und hinterlassen ein Gefühl der Ohnmacht. Wie können wir solchen Belastungen psychisch standhalten, ohne zusammenzubrechen? Nur dann, wenn wir die Einschnitte im Lebenslauf als verstehbar, beeinflussbar und als sinnhaft erleben. Das sind die Ressourcen, die uns gesund erhalten, über die viele Menschen allerdings nicht verfügen.
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Autorenportrait
Jürg Willi, Prof. Dr. med. Dr. h. c., war ein Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Bis 1999 war er Direktor der psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich und Ordinarius für Ambulante Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Krankheiten an der Universität Zürich. Von 1999 bis 2009 leitete er das Institut für ökologisch-systemische Therapie in Zürich. Er verstarb im April 2019 im Alter von 85 Jahren.
Leseprobe
6 Wie kommt es zu einer Wende im Lebenslauf? Eine innere Vorbereitung allein genügt meist nicht, um eine Lebenswende zu verwirklichen; meist braucht eine Person ein Entgegenkommen durch Veränderungen der Lebensumstände. Durch Veränderung der Lebensumstände können neue Entwicklungen des Lebenslaufes ermöglicht oder freigesetzt werden, sie können aber auch notwendig und einem abgefordert werden. Oftmals wurden überfällige Entwicklungen nicht vollzogen, weil die Lebensumstände einen bisher davor verschont hatten. Die Person kann andererseits das Herbeiführen lebensverändernder Ereignisse begünstigen oder die Umstände unbewußt so konstellieren, daß sich eine Lebenswende ergibt, für die sie nicht verantwortlich gemacht wird, ja, in der sie eventuell sogar als Opfer der Umstände oder der Aktivitäten anderer Personen erscheint. Es gibt aber auch unerwünscht auftretende Veränderungen der Lebensumstände, wie schwere Krankheiten oder Verlust der Arbeit, die als Schicksal neben allem Leiden auch Chancen für neue, unerwartete Lebens- und Beziehungserfahrungen in sich bergen können. 6.1 Menschen ändern sich meist erst nach einer Veränderung ihrer Lebensumstände Eine Person neigt dazu, ihren Lebenslauf in gewissen Bahnen zu verfes tigen, um damit eine innere Konsistenz zu gewinnen. Eine Lebens wende in Gang zu setzen braucht die Überwindung eines gewis sen Widerstandes. Meist ist für einen Wendepunkt ein Entgegenkommen der Umwelt Voraussetzung. Die Möglichkeit, eine Vielzahl von Lebensläufen im Rahmen meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit kennenzulernen, hat mich zu einer wichtigen Erfahrung geführt: Klärende psychotherapeutische Gespräche können zu Einsicht und Bewußtwerdung von Sachverhalten führen, die bisher vermieden worden waren. Aber wie auch die psychoanalytische Praxis betont hat auf Einsicht ein längerdauerndes, oft mühsames Durcharbeiten zu folgen. In unserer Sichtweise verleiht die Einsicht den Anstoß zu einer Wende, realisiert wird die Wende aber erst durch die Veränderung der entsprechenden Lebensumstände. Persönliche Lebenswenden werden relativ häufig intendiert, aber nicht realisiert, bis sich dann eine Veränderung der Lebensumstände ergibt, die deren Vollzug notwendig macht, ermöglicht oder freisetzt. Viele Menschen leben über Jahrzehnte unter Lebensbedingungen, die im Grunde schon längst eine Veränderung erfordern, aber trotz der bewußten Erkenntnis bleiben sie lieber weiterhin in den vertrauten Verhältnissen, auch wenn diese nicht befriedigend sind. Oft sind diese Lebensumstände nicht wirklich schlecht. Sie bieten Sicherheit und einen gewohnten Rahmen. So verharrt man eventuell lieber in vertrautem Unglück, als das Risiko einer Veränderung mit ungewissen Folgen auf sich zu nehmen. Insbesondere in Langzeitehen ist oftmals die Beziehung zum Partner leblos geworden, aber man ändert nichts, weil es doch viele Aspekte gibt, welche die Ehe erhaltenswert erscheinen lassen, so etwa die Kinder, das Zuhause, die gewohnte Umgebung, der miteinander erworbene Besitz, der Freundeskreis. Es kann auch sein, daß der Partner oder die Partnerin sich um einen verdient gemacht hat, so daß man aus Loyalität eine Trennung nicht ins Auge faßt. Man vermißt einzig die lebendige Liebesbeziehung. Die überfällige Auseinandersetzung mit dem Partner traut man sich oder dem Partner nicht zu. So wird die Beziehung immer leerer. Man fühlt sich in einem goldenen Käfig gehalten und beklagt die eheliche Langeweile. Und dann oft völlig unerwartet tritt eine Veränderung der Lebensbedingungen ein, die die Auseinandersetzung mit dem Partner unumgänglich werden läßt. Am häufigsten handelt es sich dabei um das Eingehen einer anderen Liebesbeziehung. Wie in Abschnitt 2.8 beschrieben, wird unter einem Wendepunkt eine Bruchstelle im Lebenslauf verstanden, welche zu einer inneren und äußeren Umorientierung der Person führt. Eine Lebenswende kann immer nur gelingen, wenn sich dabei sowohl die Person als auch ihre persönliche Nische ändern. Es braucht meist ein Entgegenkommen der Umwelt. Das lebensverändernde Ereignis, welches den Wendepunkt im Lebens lauf herbeiführt, kann bewußt herbeigeführt schicksalhaft eingetreten unbewußt konstelliert sein. 6.2 Herbeiführung von Ereignissen, die eine Lebenswende notwendig machen oder freisetzen Das veränderungswirksame äußere Ereignis oder die passende Gelegenheit kann bewußt herbeigeführt und intendiert werden. Meist besteht bereits über längere Zeit ein diffuses Unbehagen und ein Gefühl, im Lebenslauf festgelegt zu sein. Möglicherweise wurde schon längere Zeit auf eine sich bietende Gelegenheit zur Veränderung des Lebenslaufes gewartet. Wenn sich jetzt eine Gelegenheit bietet, wird sie ergriffen. Die äußere Veränderung wird als Gelegenheit benutzt, um die Wende im Lebenslauf zu realisieren. Für eine Wende muß man sich meist gegen eigene Widerstände oder Widerstände der Nische durchsetzen. Widerstände entstehen aus Angst vor dem Risi ko, vor den unberechenbaren Folgen einer Veränderung, aber häufig auch aus Schuldgefühlen und Loyalitätsgefühlen gegenüber Partnern, Angehörigen oder Berufskollegen. Das beste ist, wenn man das Umfeld für die Wende gewinnen kann. Manche stellen aber einfach die Partner vor vollendete Tatsachen und sehen dann zu, was sich daraus entwickelt. In Partnerbeziehungen werden vollendete Tatsachen insbesondere geschaffen durch das Eingehen einer Außenbeziehung, durch den heimlichen Kauf oder Verkauf eines Hauses, durch eine Schwangerschaft oder einen intendierten Stellenwechsel. [.] Leseprobe
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Das neue Buch des Bestsellerautors Jürg Willi