Beschreibung
Bewegender Roman über den wehmütigen Abschied von der Kindheit Ein Sommer am Meer, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es einmal war: Die halbwüchsige Vinca und Philippe, ihr langjähriger Gefährte, nehmen Abschied von der Kindheit und entdecken die intimen Verstrickungen des Herzens. Colettes kleines Meisterwerk liest sich als Ferienromanze ebenso betörend wie als Chronik der alles durchglühenden Adoleszenz. Die fünfzehnjährige Vinca liebt das Meer und die schier endlos scheinenden Sommermonate über alles: das Schwimmen, das Fischen, das Herumstreunen in den Dünen und zwischen Felsbänken. Jahr für Jahr hat sie diese Zeit der Wonne und kindlichen Unbefangenheit mit Philippe geteilt. Doch in diesem Sommer scheint irgend etwas verändert - weniger unbeschwert als bisher, weniger fröhlich. Worüber man einst scherzte, das ruft mit einem Mal Befangenheit hervor, Gedanken und Gefühle, die man sonst geschwisterlich teilte, hält man nun geheim voreinander. Vinca und Philippe fühlen sich bei ihrem Aufbruch zu neuen Ufern auf ungeahnte Weise entzweit, durch ihre Empfindungen füreinander aber zugleich inniger verbunden denn je. Marcel Proust schrieb über Colette (1873-1954), sie habe 'das menschlichste Herz der modernen französischen Literatur'. Ihr 1923 erschienener Roman sorgte wegen seiner moralischen Freizügigkeit für einen veritablen Skandal. Aufkeimende Sinnlichkeit bei einem Jungen, erst recht bei einem Mädchen zu zeigen, galt zu jener Zeit noch als künstlerisches Tabu. Geflissentlich übersehen wurde von den Kritikern allerdings, dass es sich bei Colettes verführerischer Liebesgeschichte um eine höchst feinsinnige Aktualisierung des antiken 'Daphnis und Chloe'-Stoffes handelt. Die zwei Prosaskizzen "Atempause" und "Mir ist heiß" komplettieren den Band. Die ideale Strandlektüre: atmosphärisch dicht, verführerisch, ein Lesegenuß von der ersten bis zur letzten Seite Trouvaille einer sprachgewandten Erzählerin des 20. Jahrhunderts: von vielen unterschätzt, von wenigen übertroffen
Autorenportrait
Sidonie-Gabrielle Colette (1873-1954) wurde als Tochter eines Offiziers geboren, verbrachte ihre Kindheit in der Bourgogne und kam als junges Mädchen nach Paris. Von ihrem ersten Ehemann, einem Schriftsteller, wurde sie zum Schreiben angeregt: Ihre ersten Romane veröffentlichte sie ab 1896 unter dem Pseudonym ihres Mannes. Nach ihrer Scheidung arbeitete sie als Tänzerin auf zahlreichen Varietébühnen in Paris und in der Provinz. Ihr Roman «La Vagabonde» bedeutete 1910 ihren Durchbruch als Autorin. Sie war noch weitere zwei Male verheiratet, schrieb als Journalistin für das Feuilleton der Zeitung «Le Matin» und wurde 1944 als erste Frau in die Académie Goncourt gewählt. In ihren zahlreichen Romanen beschäftigte sie sich vor allem mit der Zerbrechlichkeit der Liebe und der Darstellung erotischer Empfindungen und setzte sich kritisch mit der Ehe auseinander. 1945 wählte man sie als zweite Frau in der Geschichte in die Académie Goncourt.
Leseprobe
Erwachende Herzen 'Gehst du fischen, Vinca?' Die Augen des Mädchens schimmerten graublau, wie Regen im Frühling. Ein hoheitsvolles Nicken gab Antwort: Ja, allerdings, sie ging fischen. Ihre geflickte Wollweste bezeugte es, und auch die durch das Zehren des Salzwassers eingelaufenen Leinenschuhe. Und wußte man denn nicht, daß der blau-grün karierte kniefreie Rock, den sie schon drei Jahre trug, dem Krabben- und Garnelenfang gewidmet war? Nun, und die beiden Netze auf ihrer Schulter und die Wollkappe - gesträubt und bläulich wie eine Dünendistel -, gehörten die nicht offensichtlich zu einer Fischerinnenausrüstung? Sie holte den Rufenden ein und ging ihm voran. Mit langen Schritten der schlanken, wohlgeformten, terrakottafarbenen Beine stieg sie zu den Felsen hinab. Da Philippe ihr zusah, verglich er im Geiste das sich bietende Bild mit der Vinca der letztjährigen Ferien. 'Hört sie nicht endlich auf zu wachsen? Es wäre an der Zeit. Und Fleisch hat sie noch immer nicht mehr als im letzten Sommer.!' Ihr kurzes Haar stand lose vom Kopf ab wie steifes, goldenes Stroh; seit vier Monaten ließ sie es wachsen, aber bislang konnte es weder geflochten noch eingerollt werden. Wangen und Hände waren braungebrannt, der Hals leuchtete weiß wie Milch unter dem Haar, ihr Lächeln war ein wenig gezwungen, aber ihr Lachen hell und klar; und schloß sie auch Bluse und Wolljäckchen penibel über dem nicht vorhandenen Busen, so lüftete sie doch, um ins Wasser zu gehen, Rock und Hose möglichst hoch, so selbstverständlich und unbefangen wie ein Knabe. Ihr Gefährte beobachtet sie. Er liegt auf der grasbewachsenen Düne und wiegt das Kinn mit dem zarten Grübchen auf den gekreuzten Armen. Er ist sechzehneinhalb, Vinca ein Jahr jünger. Die Kindheit hatte sie eng verbunden - nun trennen sie die Jahre des Heranreifens. Schon im vorigen Sommer gab es verdrießliche Widerreden und tückische Püffe. Und jetzt sinkt zuweilen eine so bleischwere Stille zwischen sie, daß sie lieber schmollen, als sich mit einem Gespräch abzumühen. Aber Philippe, gewandt, zu Jagd und Verstellung geboren, umhüllt sein Verstummen mit einem Geheimnis und macht aus seiner Bedrängnis eine Waffe. Er versucht sich in leichten, blasierten Gesten, wirft bittere kleine Bemerkungen hin - 'Ach, wozu das? Du verstehst mich ja doch nicht.' -, während Vinca nur schweigen kann und sich kränken über dieses Schweigen und über das, was sie nicht weiß, aber erfahren möchte, sich sträuben gegen das vorzeitige brennende Verlangen, alles preiszugeben - und gegen ihre Angst. Wird nicht der Gefährte, der sich von Tag zu Tag wandelt und von Stunde zu Stunde kräftiger wird, einmal das zarte Band zerreißen, das ihn bisher jeden Sommer zurückzog zu den dichten Wäldern über dem Meeresufer und den tangbehangenen Felsen? Schon hat er eine unheilvolle Art, starr durch die Freundin hindurchzublicken, als wäre sie durchsichtig, zerfließend, wesenlos. Nächstes Jahr wird sie ihm vielleicht schon zu Füßen liegen und Frauenworte stammeln - 'Phil, sei nicht böse. ich liebe dich, Phil. mach mit mir, was du willst. sprich mit mir, Phil.' Heute jedoch bewahrt sie noch das Unwirsch-Würdevolle des Kindes. Sie hält ihm stand, und dieser Widerstand erbittert ihn. Während sein Blick der kindlich anmutigen Gestalt folgte, die zum Ufer hinabschritt, empfand Philippe weder das Verlangen, sie zu liebkosen, noch, sie zu schlagen; aber er wünschte sie sich vertrauensvoll und ihm allein zugehörig, ihm zur Verfügung stehend wie all jene Schätze, deren er sich bereits schämte: getrocknete Blumen, Achatkugeln, Muscheln, Samen, Bilder, eine kleine silberne Uhr. 'Vinca!' rief er. 'Wart auf mich! Ich komm' mit.' Mit wenigen Sprüngen war er bei ihr und griff nach einem der Netze. 'Weshalb hast du denn zwei mitgenommen?' fragte er. 'Das kleine Sacknetz für die engen Spalten, und dann mein eigenes, das ich immer nehme.' Er senkte in ihre blauen Augen seinen sanftesten schwarzen Blitz: 'Also nicht für mich?' Zugleich reichte Leseprobe