Beschreibung
'Natascha hatte ihr erklärt, dass die Farbe Rot und das Wort schön im Russischen den gleichen Wortstamm haben. Rot ist schön.' 1985. Silke ist 15, als die Mutter die Familie mitsamt dem jungeren Bruder verlässt, erst Brandenburg, später Deutschland den Rucken kehrt. Silke bleibt beim Vater zuruck - ohnmächtig, die entstandene Lucke zu schließen. Fortan ist sie auf der Suche: Nach sich selbst, nach einer, ihrer Familie, nach Stabilität, deren Fehlen auch durch den Zusammenbruch der DDR omnipräsent wird. Und liebt dabei so radikal, wie sich das Land um sie herum verändert. Jetzt, zehn Jahre später, findet Silke den Mut, ihre Suche zu beenden. Die Bahn bringt sie zur Mutter nach Holland - weg von allem Vergangenen - und ebnet so Kilometer fur Kilometer den Weg in Silkes Zukunft. 'Rot ist schön' - ein Roman uber persönliche und gesellschaftliche Umbruche und der immerwährenden Suche nach Zugehörigkeit.
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Leseprobe
In der Kindheit war immer Sommer. Silke zog den Schal fester und den Reißverschluss des Anoraks noch etwas höher. Wurde man erwachsen, wenn es auch andere Jahreszeiten gab? Wenn die Mutter nicht mehr Welten entfernt war, sondern nur Bahnkilometer? Wenn man selbst Mutter wurde? Sie hockte sich neben den weinroten Stein, wischte mit dem Zeigefinger den Schnee vom Namen des Vaters. 'Hättest du nicht warten können, auf eine kleine Natascha oder einen Micha? Wer wird den Flitzbogen für sie bauen, wer mit ihnen russische, englische oder französische Vokabeln pauken, wer ihnen zeigen, wie die Feile gehalten werden muss oder die Speichen am Rad festgezogen?' Sie legte die Handfläche an den Stein, schluckte. 'Ja, Papa, natürlich. Peter wird ein guter Vater sein. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ja, ich weiß. Ich habe es dir versprochen.' Sanft strich sie über den Schriftzug. Die Beine begannen zu kribbeln. Silke hauchte warmen Atem auf die kalten Finger, hob den Blick und schaute über den Stein, über die Friedhofsmauer hinweg. 'Jederzeit, hat Mutter geantwortet, postwendend.' Sie wechselte das Standbein. 'Telefonnummer, Wegbeschreibung, Bahnverbindungen säuberlich aufgelistet. Zehn Jahre. Zehn Jahre sind viel. Meinst du, ich schaffe das?' Sie stand auf, schluckte die Spucke hinunter und zog die Nase hoch. Peter würde bestimmt akzeptieren, wenn sie nicht fuhr. Sie strich in Bauchhöhe über den Anorak und das baumelnde Schalende. Bald schon wäre Peter für immer bei ihr, sie würden sich lieben und die Familie sein, die sie sich seit ihrer Kindheit gewünscht hatte. Sie seufzte. Würden sie nicht. 'Ja, Papa, ich weiß. Zehn Jahre sind gar nicht so viel.' Die kahlen Äste der Blutbuche trugen einen weißen Flaum aus Schnee. Weihnachten. Es gab nicht nur den Sommer, es gab auch Weihnachten, kinderjahrelang. Weihnachten mit dir, Papa. Im Losgehen fegte sie Schneekrümel vom Stein und kühlte damit die Wangen. Am nächsten Morgen ging sie zum Bahnhof und kaufte eine Fahrkarte.