Beschreibung
Der internationale Kongressbericht betrachtet die Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns unter dem Aspekt institutioneller und aufführungspraktischer Kontinuitäten und Umbrüche. Die verbreitete Hypothese einer Epochenzäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert erweist sich dabei als nicht mehr haltbar. An ihre Stelle tritt ein neues Verständnis von der Lebendigkeit und Langlebigkeit barocker Ensembletraditionen und Darbietungsweisen bis weit ins 19. Jahrhundert und sogar bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Die Beiträge des Bandes befassen sich mitunter erstmals aus organologischer, quellenkundlicher, institutionsgeschichtlicher, sozialhistorischer und kompositionstechnischer Sicht mit der Thematik.
Leseprobe
Die Beschäftigung mit der Bach-Rezeption im Zeitalter Felix Mendelssohn Bartholdys und Robert Schumanns schloss von Beginn an die Untersuchung von aufführungspraktischen Gegebenheiten und vor allem Wandlungsprozessen mit ein. Insbesondere die weitreichenden Eingriffe, die Bachs Werke im Zuge ihrer partiellen Wiederentdeckung und Reintegration in die Konzertlandschaft der Romantik hinnehmen mussten, schienen auf eine gegenüber der Bach-Zeit völlig veränderte Klangwelt zu deuten und damit die Hypothese einer eher schroffen Epochenzäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zu stützen. Das Ausgreifen einer historisch informierten Aufführungspraxis bis weit in das genuin romantische Repertoire hinein und zahlreiche wissenschaftliche Einzelbefunde insbesondere in den Bereichen der Instrumentenkunde und Spieltechnik haben in den letzten Jahren aber den Blick für die Lebendigkeit und Langlebigkeit barocker Ensembletraditionen und Darbietungsgewohnheiten geschärft, was zu einem neuen Verständnis der Musik des 19. Jahrhunderts und ihrer Verwurzelung in der älteren Tradition beigetragen hat. Auch im Bereich der musikbezogenen Institutionen und Aufführungskontexte überlagerten und verbanden sich Neugründungen von Laienchören, Konservatorien und professionell verwalteten bürgerlichen Konzertorchestern mit zahlreichen Kontinuitäten etwa hinsichtlich der kirchenmusikalischen Dienstensembles und Repertoireprofile. Nachdem sich das Kooperationsprojekt BMS auf zwei internationalen Symposien 2005 und 2007 zunächst den kompositorischen Verbindungslinien zwischen Bach, Mendelssohn und Schumann sowie der besonderen Bedeutung der Orgel in diesem Kontext angenommen hatte, war es nur natürlich, als nächstes die Frage aufführungspraktischer und institutioneller Traditionen und Umbrüche an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Zu diesem Zweck trafen sich im November 2009 Musikwissenschaftler und Historiker aus Deutschland, England und der Schweiz, um zum ersten Mal überhaupt organologische, quellenkundliche, institutionsgeschichtliche, sozialhistorische und kompositionstechnische Zugänge und Befunde zu diesem Themenkreis zu erörtern. Dabei konnten anhand neuer Überlegungen und detaillierter Quellenstudien tradierte Vorurteile und Fehlannahmen hinsichtlich eines alle Bereiche der Musiklandschaft erfassenden Umbruchs um 1800 korrigiert oder zumindest relativiert werden, wohingegen sich eher das spätere 19. oder gar frühe 20. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer vom barock-klassischen Usus fundamental verschiedenen Aufführungspraxis herauskristallisierte. Im Schatten langfristiger Kontinuitäten ließen sich jedoch tatsächlich auch echte Neuansätze im Bereich der Instrumente und Ensembles ausmachen, was vor allem mit den veränderten Darbietungskontexten und Trägerinstitutionen der öffentlichen und privaten Musikausübung zusammenhing. Die ungebrochene Pflege traditionsgesättigter Gattungen vor allem im Bereich der geistlichen Musik sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der Oberfläche eines weitgehend beibehaltenen formalen Gewandes teils völlig veränderte musikalische Konzeptionen entwickelt wurden. Zwei einleitende Beiträge beschäftigen sich mit grundsätzlichen Fragen sowohl der untersuchten Epoche als auch der Methodologie und Geschichte ihrer wissenschaftlichen Erschließung. Jürgen Osterhammel (Konstanz) widmet sich dabei aus der Sicht des Historikers der Frage von Kontinuitäten und Neuaufbrüchen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Er problematisiert einerseits gängige Konzepte einer vermeintlichen Epochengrenze um 1800 und arbeitet andererseits anhand konkreter Fragestellungen und Kategorien einige für das Gesellschafts- und Kulturverständnis der Zeit in der Tat fundamentale Entwicklungslinien heraus. Clive Brown (Birmingham) beschäftigt sich anhand zahlreicher Details der Notations- und Aufführungsgewohnheiten in Klassik und Romantik mit der Frage, welche Quellen für eine solche Untersuchung überhaupt zur Verfügung stehen und wie sie sachgerecht interpretiert werden können. Beide Beiträge stecken damit das historische und organologische Terrain ab, auf dem die folgenden Einzelstudien angesiedelt sind. Es entspricht der empirischen Ausrichtung des Forschungsprojekts Bach - Mendelssohn - Schumann, kompositionsgeschichtliche und ästhetische Verbindungslinien stets im Kontext des für den Epochenklang verantwortlichen, jedoch selbst in stetiger Entwicklung begriffenen Instrumentariums sowie der jeweils gängigen Spielweisen zu diskutieren, zugleich jedoch die institutionellen und soziokulturellen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, unter denen sich die Produktion und Reproduktion auch der Musik Bachs, Mendelssohns und Schumanns vollzog. Drei Beiträge widmen sich dabei bestimmten Instrumentengruppen, die für die Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts eine essentielle, aufgrund tiefgreifender Veränderungen in Bau und Handhabung für die Wiedergabe Bachscher Musik jedoch zugleich höchst problematische Rolle spielten. Eszter Fontana (Leipzig) rehabilitiert mit dem Leipziger Klavierbau der Mendelssohn- Zeit eine bisher kaum gebührend gewürdigte Traditionsschicht der örtlichen Musikpflege. Die Untersuchung der baulichen Eigenheiten und Klangideale der einzelnen Herstellerfirmen lässt dabei auf ein vielgestaltiges pianistisches Klangbild schließen, das den Musikern je nach Vorliebe, Repertoire und Kontext viel Spielraum für eine individuelle Tonästhetik ließ. Edward Tarr (Rheinfelden) widmet sich mit dem Übergang von Naturinstrumenten zu Ventiltrompeten im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einer wesentlichen Weichenstellung in der Geschichte der Blechbläser. Anhand der Biographien und bevorzugten Instrumente wichtiger Trompeter des 19. Jahrhunderts werden dabei höchst unterschiedliche Annäherungsweisen an die seinerzeit kaum ausführbaren Clarinpartien Bachs vorgestellt. Weiter zurück ins 18. Jahrhundert führt der Beitrag von Sören Friis (Odense), der sich mit Bachs Suiten für Violoncello solo beschäftigt und dabei mit der Skordatur eine Stimm- und Notationsgewohnheit in den Vordergrund stellt, die sich in der Musikpraxis des Nachbarock kaum noch behaupten konnte. Die aus der Analyse der Notation gewonnenen Erkenntnisse zur Spieltechnik erlauben weitreichende Rückschlüsse auf den von Bach bevorzugten Instrumententyp. Dem Zusammenhang von Aufführungspraxis, Darbietungskontext und Institutionsgeschichte widmen sich die folgenden fünf Beiträge. Anselm Hartinger (Würzburg / Basel) rekonstruiert anhand einer gescheiterten Leipziger Aufführung des Jahres 1833 und ihres aktenmäßig überlieferten dienstlichen Nachspiels Grundzüge der kirchenmusikalischen Direktions- und Probenpraxis der Zeit und widmet sich dabei den komplexen Zusammenhängen von Ensembletyp, Repertoireentwicklung und gewandelter Hörerwartung. Barbara Wiermann (Leipzig) untersucht mit der Aufführungstätigkeit des 1843 gegründeten Leipziger Conservatorium der Musik die Praxis einer für Jahrzehnte als vorbildlich angesehenen Lehranstalt. Dabei geht es anhand der Durchsicht von Prüfungsprotokollen und Examenskonzerten unter anderem um die Frage, welche Rolle die Kompositionen der institutseigenen Leitfigur Mendelssohn im Repertoire des Hauses tatsächlich spielten. Die private Musikpflege in den Leipziger Bürgerhäusern gehört zu den zweifellos interessantesten und vermutlich experimentellsten, dabei jedoch besonders schwer erschließbaren Segmenten des Musiklebens früherer Epochen. Mirjam Gerber (Hannover) hat sich anhand der Tagebuchaufzeichnungen von Henriette Voigt mit diesem Phänomen beschäftigt, wobei zugleich diskutiert wird, inwieweit Konzepte und Erscheinungen einer Salonkultur auch für das Leipzig der Zeit Mendelssohns und Schumanns namhaft gemacht werden können und welche Kreise als Träger derartiger Darbietungskontexte in Frage kamen. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der für das neuzeitliche Musikleben so folgenreichen Begegnung d...