Beschreibung
Dieses Buch ist eine Reise: in die Salpetrière, die Pariser Psychiatrie, in der Sigmund Freud Schüler bei Charcot war; in den Winterwald, aus dem eine gelangweilte Prinzessin einen Prinzen retten will; in die Wechselstadt, in der ganze Häuser als "Mobilien" durch die Stadt wandern; in die Geisterfabrik, wo Seelenfragmente zu Spiritografien verarbeitet werden. Zehn Kapitel, zehn mal die Geschichte von Marie und Jan. Marie gehört zu den Menschen, die glauben, dass Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind. Sie rechnet darum stets mit dem Schlimmsten - und behält recht: Sie ist eine Außenseiterin, ängstlich, verzweifelt, meist stumm und voller Sehnsüchte. Womit sie nicht rechnet? Gerettet zu werden, von Jan, der so anders als sie selbst scheint. Von ihm fühlt Marie sich gefunden, miteinander teilen sie Geheimnisse, stille Stunden und wache Nächte. Doch ganz traut sie ihrem Glück nicht, denn sie weiß: 'man kann alles trennen, teilen und spalten, sogar ein Atom'. Was haben Marie und ihre Geschichten dem Schicksal entgegen zu setzen? Kann die Literatur ein Leben retten? Kann sie erzählen, wofür es keine Worte gibt? Katharina Hartwells magischer Debütroman erzählt von der Rettung einer Liebe und eines Lebens, er erzählt von allen Zeiten und allen möglichen Welten. Nicht zuletzt ist 'Das Fremde Meer' die Rettung durch das Erzählen selbst - und darum all das, was Literatur vermag.
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Autorenportrait
Katharina Hartwell, 1984 geboren, studierte Anglistik und Amerikanistik sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie war u.a. Gewinnerin des MDR-Literaturpreises und Stipendiatin des Landes Hessen und des Freistaates Sachsen. 2013 war sie die Sylter Inselschreiberin. Ihr erster Roman 'Das Fremde Meer' wurde begeistert aufgenommen und mit dem Hallertauer Debütpreis und dem Förderpreis für phantastische Literatur Seraph ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Leseprobe
Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen, dass die Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind. Dass man ihnen entkommen kann, wenn man sie erwartet. Zuerst muss ich von mir erzählen. Und ich fange ganz am Anfang an. Die Geschichte der Kindheit Als Kind hatte ich viele Freunde. Fast ausschließlich Jungen. Die Mädchen konnten wenig mit mir anfangen. Ich war zu laut, zu grob, zu schnell, meist war ich schmutzig, die Arme voller blutiger Kratzer, die Beine voller blauer Flecken. Ich war ein wildes Kind. Im Garten meiner Großeltern gehorchte mir alles. Der Bach hinter dem Haus, die Insekten und die Pflanzen, die Nüsse und die Beeren, die Eichhörnchen und die Fische, der Teich und die Frösche darin, alles unterstand mir. Nur die Krähen hatten ihren eigenen Kopf, und ich fürchtete mich vor ihnen. In den Ferien verbrachten wir oft ganze Tage im Garten, aber auch während der Schulzeit kamen die Jungen nachmittags vorbei. Niemand sonst hatte einen Garten wie meine Großeltern, weitläufig und verwinkelt, und darin gab es alles, Schilf um den Teich, hohe Bäume, ein kleines Gartenhaus voller Spinnweben und einen steinigen, schmalen Weg, der hinunter zum Bach führte. Dort, am Ufer und auch im Bach selbst, spielten wir vor allem im Sommer. Wir häuften Geröll und Äste zu Inseln an, auf denen wir standen und einander zuwinkten. Unsere Vorhaben waren stets ehrgeizig und aussichtslos. Ein Boot wollten wir bauen, eine Brücke, einen Damm. Im Herbst verlegten wir unsere Spiele wieder zurück in den Garten. Unter dem Kastanienbaum errichteten wir aus Ästen, aus Laub, aus Ziegeln, die wir im Keller gefunden hatten, Burgen für die Ewigkeit. Wir spielten zu jeder Jahreszeit draußen. Auch im Winter, auch, wenn es schon früh dunkel wurde und meine Großmutter sich um uns fürchtete. Nur mein Onkel Paul konnte uns überreden, ins Haus zu kommen. Dann durften wir in sein Zimmer, wo alles besonders und anders war: Seine Steinsammlung zeigte er uns, und seine elektrische Schreibmaschine. Paul wollte uns beibringen, Schach zu spielen, aber uns wurde schnell langweilig. Mir wurde schnell langweilig, und ich gab den Ton an. Mir war nicht danach, still zu sitzen und kleine Holzfiguren vor- und zurückzuschieben. Mir war nach großen Expeditionen. Meine Pläne trug ich mit Bestimmtheit vor. Jeden Nachmittag entwarf ich einen neuen Kosmos, legte den Handlungsverlauf unserer Spiele fest, bis in jedes Detail, bis in die Unterhaltungen: Du würdest zum Haus des Jägers kommen, und ich wäre bereits dort. Du würdest fragen, und ich würde sagen. Bei anderen Spielen ging es genau darum, nichts zu planen, nichts zu wissen. Es ging darum, sich im Wald zu verlieren und aufspüren zu müssen. Es ging darum, schneller als der andere zu sein, weniger Angst zu haben. Eines unserer wilderen Spiele bestand darin, dass wir hoch in die Bäume kletterten und uns in die flachen Baumkronen fallen ließen. Wenn uns das Netz der Zweige nicht hielt, krachten wir hinunter auf den Waldboden. Ich zog mir unzählige Kratzer und blaue Flecken zu, aber anders als meine Großmutter es mir voraussagte, brach ich mir nie einen Arm oder ein Bein. Meine Großeltern waren immerzu in Sorge um mich. Sie fürchteten, ich würde im Bach ertrinken, ich würde beim Überqueren der Landstraße überfahren, dass mich ein namenloser, schwarz gekleideter Mann, der in den Städten und in den Dörfern die Kinder verschwinden ließ, mitnähme. Vergeblich versuchten sie, meine Mutter davon zu überzeugen, dass es gefährlich sei, uns den halben Vormittag unbeaufsichtigt im Wald oder am Bach spielen zu lassen. Meine Mutter aber glaubte nicht an Verbote und nicht an Beaufsichtigung. 'Es ist gut für Nina und Marie, wenn sie sich allein zurechtfinden', sagte meine Mutter bei jeder Gelegenheit, und ich nickte stolz, denn aus ihren Worten schloss ich, dass wir uns allein zurechtfanden.