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Erlebte Zeiten/Bewegte Zeiten

Erzählungen 1952-2007/Leben und Schreiben 1954-2008 - 2 Bde in Kassette

Erschienen am 01.10.2013
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783827011770
Sprache: Deutsch
Umfang: 736 S.
Format (T/L/B): 8.5 x 22.5 x 14.8 cm
Einband: Gebunden im Schuber

Beschreibung

Die Erzählung steht am Beginn ihres Schaffens: Mit vierzehn veröffentlicht Nadine Gordimer ihre erste Kurzgeschichte, die erste Buchpublikation ist ein Erzählungsband. Während die Romane ihren Weltruf begründeten, hält Gordimer die Kurzgeschichte für die literarische Form unserer Zeit, immer wieder kehrt sie zu ihr zurück. 'Erlebte Zeiten' bietet nun erstmals einen Querschnitt dieses großen Werkes, Erzählungen, die einen Bogen über sechs Jahrzehnte spannen. Die Prägnanz ihrer Sprache, ihr Auge fürs Detail, die konzisen Alltagsbeobachtungen zeichnen ihre Erzählungen von jeher aus, ihre Kunst, große Themen in knappen Bildern zu inszenieren, ist unvergleichlich. Auch das essayistische Werk nimmt eine besondere Stellung in Nadine Gordimers Werk ein. Genuin offenbart sich in 'Bewegte Zeiten' ihre unerschrockene politische Haltung, ihr kompromissloses Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit. Ob sie über Apartheid, Zensur, eine Kindheit in Südafrika, über das Sklavenstädtchen Banana, den Kongo oder über Nelson Mandela schreibt, in jeder Zeile schwingen Redlichkeit und große Menschlichkeit mit. Und nicht zuletzt zeigt sie sich, in Überlegungen zu dem Einfluss moderner Technologien auf das Schreiben, als moderne und verblüffend jung gebliebene Autorin. Eine Autorin, vor deren klaren Verstand, tiefer Menschenkenntnis und jugendlicher Kühnheit man sich verneigen muss.

Autorenportrait

Nadine Gordimer, geboren 1923 in dem Minenstädtchen Springs, Transvaal, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Jahrzehntelang schrieb sie gegen das Apartheidregime an und setzt sich bis heute mit dessen zerstörerischen Folgen für die schwarze und weiße Bevölkerung auseinander. 1991 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. Sie starb am 13. Juli 2014 in Johannesburg, Südafrika.

Leseprobe

Die sanfte Stimme der Schlange Er war erst sechsundzwanzig und sehr gesund, und er war bald stark genug, um in den Garten hinaus gerollt zu werden. Wie alle anderen setzte auch er merkwürdig großes Vertrauen in den Garten: 'Nun, bald ist es so weit, und du kannst draußen im Garten sitzen', sagten sie, schauten ihn eindringlich an und nickten verständnisvoll mit dem Kopf. Ja, er würde bald draußen sein. im Garten. Es war ein großer Garten, umgeben von alten, dunklen, geschmeidigen Tannen, und er würde zwischen ihren gestuften Zweigen sitzen, unten im Schatten, weit weg. Man glaubte, dass er dort im Garten begreifen würde, was geschehen war; dass es ihm dort leichter fallen würde. Vielleicht schwang etwas von der alten GartenEdenVorstellung mit; dass der verletzliche Mensch in der beruhigenden, unpersönlichen Gegenwart von Bäumen und Gras und Erde seinen inneren Frieden wiederfände, bevor er sich dem Gaffen der Menschen aussetzen würde. Beim ersten Mal war es merkwürdig; seine Frau schob ihn über den Kieselweg in die Sonne und den Schatten, und er fühlte sich genauso wie damals als kleiner Junge, wenn er sich tief herunterbeugte und die Welt zwischen seinen Fußknöcheln hindurch verkehrt herum sah. Alles war weit und offen, der Himmel, der Wind blies durch das schwankende, zitternde Grün, die Blumen schüttelten protestierend ihre Köpfe. Bewegung. Er fühlte sich wie ein schwaches Segel, das sich nach der Flaute in einer aufkommenden Brise sanft blähte. Sie rollte ihn weiter, schob fest und nicht besonders geschickt mit ihren dünnen, hübschen Armen - aber er würde sich bestimmt nicht darüber beschweren oder andeuten, dass es die Krankenschwester besser könnte, denn er wusste, dass sie das verletzen würde , und als sie an eine Stelle kamen, die er schön fand, stellte sie die Bremse des Stuhls fest und richtete ihm alles für den Vormittag dort bequem her. Das war das erste Mal gewesen, und jetzt saß er jeden Tag dort. Er las viel, wurde aber manchmal ganz plötzlich und unweigerlich abgelenkt von der eingesunkenen Stelle dort unter der Decke, wo sein Bein gewesen war. Da lag sein eines Bein, und daneben hing die Decke durch. Beim Hinschauen fühlte er, dass sein Bein nicht da war; er fühlte, wie es langsam von den Zehen bis zum Oberschenkel hoch verschwand. Er fühlte, dass er kein Bein hatte. Nach ein paar Minuten schaute er wieder in das Buch. Er ließ die Erkenntnis nie ganz an sich herankommen; er begriff es körperlich, ließ aber nicht zu, dass er selbst es wirklich begriff. Er fühlte, wie das Wissen hochdrängte, immer näher kam, dunkel, niederschmetternd, bereit, jeden Augenblick zu explodieren aber er wandte sich immer noch rechtzeitig ab und schaute wieder in das Buch. Das war sein System; so ging er damit um. Er wollte das Wissen nahe herankommen lassen, unwiderstehlich nahe, wieder und wieder, drauf und dran, ihn zu überfallen, wenn er allein im Garten saß. Und wieder und wieder würde er sich gerade noch rechtzeitig abwenden. Langsam würde dieses Verhalten zu einer Gewohnheit werden und die beruhigende Kraft einer Gewohnheit besitzen. Langsam würde sein Verhalten zu einer dermaßen eingefleischten Gewohnheit werden, dass er die Wahrheit niemals erkennen würde. Und eines Tages würde er merken, dass er erreicht hätte, was er wollte: Er würde das Gefühl haben, dass er schon immer so gewesen war. Dann wäre die Gefahr vorbei, für immer vorbei. In ein bis zwei Wochen musste er nicht mehr die ganze Zeit lesen; er konnte das Buch hinlegen und sich umblicken, konnte zuschauen, wie sich die Tannen seidig wie feines, glattes Kinderhaar im Wind teilten, konnte zuschauen, wie die kleinen Vögel auf der Telefonleitung balancierten, konnte zuschauen, wie der fette, alte Täuberich vor Lust gurrend hinter seiner feinen, patrizischen grauen Genossin hertrippelte. Seine Frau kam, setzte sich neben ihn und nähte, manchmal sprachen sie miteinander, aber oft saßen sie stundenlan