Beschreibung
Annette Mingels' Heldin Ruth erzählt klarsichtig und illusionslos das Leben im Unvollkommenen: an der Seite des älteren Mannes und voller Sehnsucht nach dem jüngeren. Mit großer Souveränität und reich an Beobachtungen fügt "Der aufrechte Gang" die großen Gegenstände der Literatur - Tod und Liebe, Glauben und die Frage nach Aufrichtigkeit - zu einer eindrucksvollen Geschichte. Ruth ist Ende dreißig, als ihr Mann stirbt. Sven war ihr ehemaliger Kunstgeschichts-Professor, er hätte ihr Vater sein können. Als seine Krankheit ausbricht, wünscht er weiterzuleben wie bisher. So geben beide vor, in ihrem ruhigen, von kleinen Lügen durchzogenen Dasein ändere sich nichts. Mit Svens Tod beginnt Ruths Leben von neuem. Sie bricht auf zu einer England-Reise mit ihrer Jugendfreundin Simone, die sie seit der Hochzeit nicht gesehen hat - die Freundin ertrug den neuen Mann an ihrer Seite nicht. Auch William kommt mit, Simones siebzehnjähriger Sohn, den Ruth bei ihrer letzten Begegnung noch als Baby im Arm hielt. In den Tagen ihrer Fahrt wächst zwischen Ruth und William eine Zuneigung, die unübersehbar wird. William ist überzeugt, dass sie zueinander gehören, doch Ruth hadert mit dem Unterschied ihrer Jahre. Als sie dennoch zusammenkommen, beginnt eine unmögliche Verbindung.
Autorenportrait
Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Sprachwissenschaft und Soziologie und promovierte mit einer Arbeit über Dürrenmatt und Kierkegaard. Sie veröffentlichte die Romane >Puppenglück< (2003), bei DuMont >Die Liebe der Matrosen< (2005), >Der aufrechte Gang< (2006), den Erzählungsband >Romantiker< (2007) sowie >Tontauben< (2010). Annette Mingels lebt für einige Jahre in New Jersey, USA. Auszeichnungen 2008 HALMA-Stipendium 2007 Kulturelle Auszeichnung des Kant
Leseprobe
Natürlich, denkt Ruth, die Tür. Sie hatten vergessen abzuschließen. Was ist?, fragt Willy. Er hält in der Bewegung inne und drückt sich von hinten gegen Ruth, die vor dem Bett kniet, den Oberkörper voran (wie ein Kind beim abendlichen Gebet, ein Schwimmer vorm Sprung); sie könnte sagen, deine Mutter, sie könnte sagen, pass auf. Sie greift nach der Bettdecke und hält sie sich vor die Brust. Simone legt die Hand an den Mund, die Tür ist gegen den Stopper aus weißem Gummi gestoßen und schwankt sacht in den Angeln. Hinter Simone kann Ruth den Flur sehen, die lindgrüne Tapete mit den feinen Rillen, die sich rau anfühlt, ein wenig wie die Schale einer Miesmuschel, im Sonnenlicht ist die Luft staubig, und Ruth erinnert sich, wie Simone über die Wiese rennt, das Gras reicht ihr bis zur Hüfte, sie hat die Arme gespreizt, jeder ihrer Schritte wird von einer Woge hellgelben Blütenstaubs begleitet, wie Dampf steht er für Sekunden in der Luft, bevor er zwischen den Halmen versinkt. Simone winkt, und Ruth hebt mechanisch die Hand und kann den Blick nicht von den aufstiebenden Wellen wenden. Sie sind zwölf und der ganze Nachmittag liegt vor ihnen. Sie werden mit ihren Rädern durch das Dorf fahren, sie werden Ackerwinde, Rittersporn und Gerste pflücken, deren lang begrannte Ähren sie an Stachelschweine erinnern, sie werden darüber reden, welche Jungen aus ihrer Klasse sie küssen würden, wenn sie müssten, und welche nie; wenn sie vom offenen Feld aus den Horizont sehen, werden sie kurz denken, dass die Welt nicht größer ist als das Dorf (aber sie wissen, dass es nicht stimmt), nach dem Abendessen schreiben sie sich Briefe, die sie einander am nächsten Morgen geben: Jetzt haben wir uns schon eine Stunde nicht gesehen. Simone dreht sich um und verlässt den Raum, staksig wie ein Vogel, der zu Fuß geht. Die Tür zieht sie hinter sich zu. Scheiße, flüstert Willy, was machen wir jetzt?, und Ruth denkt, er spricht wie seine Mutter, lässt jedes Wort ins nächste übergehen, sodass eine einzige schleppende Wortkette entsteht. Weiß nicht, sagt sie. Vor Schreck ist sie ganz gleichgültig; sie spürt, dass sie sogar lachen könnte, ein nervöses, heftiges Lachen, das im Magen schmerzt.
Schlagzeile
"Annette Mingels blickt in ihrem Roman in die Abgründe der modernen Liebesordnung. Aufwühlend." BASLER ZEITUNG