Beschreibung
Ania hat ihren Vater jahrelang kaum gesehen. Da erreicht sie eines Tages ein Anruf seiner neuen Frau: Gabriel hat in der Nacht Selbstmord begangen. Der Freitod scheint im Zusammenhang mit dem Skandal zu stehen, den der als linker Intellektueller bekannte Radiojournalist ausgelöst hat, als er öffentlich Partei für zwei junge Einheimische ergriff, die an seinem Wohnort einen afrikanischen Sans-Papiers brutal ermordet haben. Als sich Ania zur Beerdigung in der Pariser Peripherie aufmacht, schlägt ihr in dem tief gespaltenen Dorf eine hasserfüllte Atmosphäre entgegen. Aber auch in ihrem alten Elternhaus stößt sie einzig auf Fremdheit und muss sich die Frage stellen, wie es dazu kommen konnte, dass ihr Vater eine solch unerträgliche Wendung vollzog. Pascale Kramer seziert in Autopsie des Vaters ein Land im Kippzustand. Das Skalpell ansetzend, erzählt sie vom Wegschauen, von der Abschottung einer ganzen Gesellschaftsschicht und wirft gleichzeitig ein schmerzhaft klares Licht auf das Innerste einer Familie, die verpasste Verständigung zwischen Vater und Tochter.
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Autorenportrait
Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman *Die Lebenden* (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem *Die unerbittliche Brutalität des Erwachens* (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.
Leseprobe
Ania klopfte und trat ein. Sie war uberrascht von dem abgestandenen Geruch nach Wäsche und alter Haut, den ein Luftzug sinnlos aufwirbelte. Ein Notizblatt wehte ihr vor die Fuße, als die Tur hinter ihr zufiel. Clara war im Schlafzimmer, sie rief, sie werde gleich kommen. Ania hängte ihre Tasche an die Garderobe, band ihren Pferdeschwanz neu, bedauerte, sich fur diese erste Begegnung nicht ein bisschen hubscher gemacht zu haben. Die Badezimmertur hinter ihr war einen Spaltbreit geöffnet; eine nackte Gluhbirne warf Reflexe auf die dunkelgrunen Fliesen. Ania erinnerte sich, wie es ihr als Kind zuwider war, mit nackten Fußen den gekachelten Boden zu betreten. Sie stieß die Tur auf und machte Licht. Die Badewanne war voller Handtucher. Auf dem Rand des Waschbeckens lagen ein schaumverklebter Plastikrasierer und die gesammelten Medikamente von jemandem, der Angst hat zu sterben. Ania drang in die Intimsphäre eines Vaters ein, von dem sie letztlich nur Ansichten gekannt hatte, sie fuhlte nichts, aber es war verwirrend.