Beschreibung
Die Autonomie des freien und mündigen Menschen gilt als Leitbild der Moderne. Für den Soziologen Castel eine unbestreitbare Errungenschaft, deren Kehrseite jedoch Konsequenzen hat, auf die es Antworten zu finden gilt, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht weiter zu gefährden. Denn der Mensch ist in unserer 'Gesellschaft der Individuen' mit Umbrüchen in der Arbeitswelt konfrontiert, die tief greifende soziale und anthropologische Konsequenzen haben. Er sieht sich Ansprüchen ausgeliefert, denen er nicht immer gewachsen ist. Diese Überhöhung des Individuums hat die Welt der Arbeit längst erobert. Gefordert werden Verantwortungsgefühl, Risikobereitschaft und Unternehmungsgeist, um angesichts der heutigen ökonomischen Situation die berufliche Leistung zu steigern und die nötige Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen. Begleitet ist dieser Appell an den Einsatz des Individuums stets von einer Verdammung staatlicher Zwänge. Die Forderung nach einer Befreiung des Individuums aus den 'Fesseln kollektiver Regelungen' ist zu einer allgemeinen Glaubenslehre geworden. Doch dieses bedingungslose Lob auf die Fähigkeiten des Einzelnen schwebt gleichzeitig hoch über der konkreten Erfahrung vieler Individuen, die in unserer Gesellschaft leben. Das Individuum ist kein Wesen, das im Vollbesitz seiner zur Selbstverwirklichung nötigen Fähigkeiten vom Himmel gefallen ist und nur darauf wartet, dass man es durch die Befreiung vom Gestrüpp der Gesetze und Vorschriften, mit denen es der Staat zugedeckt hat, aus seinem Dornröschenschlaf weckt. Die Fähigkeit, sich als freies und selbstverantwortliches Individuum zu verwirklichen beruht auf Voraussetzungen, die nicht von vornherein gegeben und vor allem nicht allen in gleichem Maße gegeben sind. Die Notwendigkeit, soziale Sicherung in einer 'Gesellschaft der Individuen' neu zu begreifen, verlangt auch ein neues Verständnis der Funktion des Staates und der Prinzipien des Arbeitsrechts - also zwangsläufig ein Eingreifen der Politik, um den wachsenden sozialen Unsicherheiten und dem gefährdeten gesellschaftlichen Zusammenhalt etwas entgegensetzen zu können. Die hier vorgelegte Untersuchung von Robert Castel analysiert scharf und schonungslos die Strukturen unserer westlichen Gesellschaft. Er entwickelt auf dieser Basis eine wirkliche Gesellschaftstheorie, die auf die aktuellen Herausforderungen der Krise der Arbeit und der dadurch bewirkten Krise des Sozialstaats in einer immer stärker entkollektivierten Gesellschaft antworten kann.
Autorenportrait
Robert Castel war einer der einflussreichsten Soziologen Frankreichs mit hohem internationalen Renommee. In den 1960er Jahren arbeitete er mit Pierre Bourdieu und orientierte sich an der Schule Michel Foucaults. Er war Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales und Mitgründer der Gruppe GRASS - Groupe d´analyse du social et de la sociabilité. In der Hamburger Edition erschienen 'Die Stärkung des Sozialen' (2005) und 'Negative Diskriminierung' (2009). Robert Castel starb am 12. März 2013 im Alter von 79 Jahren.