Beschreibung
'Ungesuchte Funde nennt man oft die glücklichsten', schreibt Barbara Köhler zu Beginn ihres neuen Buchs 'Neufundland' und macht sich mit ihren Texten auf, um 'zu finden, was man nicht schon weiß. Herausfinden, was das Unmögliche ist.' Ihre Texte sind Reisen, ausgehend von realen Orten wie Neufundland / Nova Scotia, London oder Duisburg, von Örtlichkeiten und deren Wörtlichkeiten, Namen und Geschichte - Reisen in einen Sprachraum ('ins Deutsch-Land'), oder sie queren die Räume anderer Texte, erkunden deren U-topografie: Gregor Samsas Zimmer etwa und die Reise aller Reisen, Homers Odyssee. Es sind unterschiedliche Genres, die in diesem Buch versammelt sind: neben Reiseberichten auch Essays, Reden und Betrachtungen. Immer aber geht es um Poesie, jene 'Kunst der kürzesten Wege und größten Distanzen von Wort zu Wort', und um die Möglichkeiten von Sprachen, Differenzen zur Sprache zu bringen. Übertragungen überbrücken die großen zeiträumlichen Unterschiede zwischen Sprachen. Barbara Köhler holt die Gedichte der Mechthild von Magdeburg in unsere Gegenwart, bringt Gertrude Stein und Elizabeth Bishop zum Klingen. Was selten zusammengedacht wird, exakte Wissenschaft und Poesie, geht hier Verbindungen ein: ein Sappho-Gedicht mit der Quantendynamik und Schrödingers Katze mit der Gender-Grammatik. Das Poetische zeigt sich in 'Neufundland' als größtmögliche Exaktheit einer Sprache, die nicht Aussagen über anderes macht, sondern dem Anderen Denk-, Bewegungs- und Existenzmöglichkeiten einräumt. Eine Sprache, die und mit der man nicht mehr beherrschen kann, aber mit der und die mit sich reden lässt.
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Autorenportrait
Barbara Köhler, geboren 1959 in Burgstädt, lebt in Duisburg. Sie veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Essays, Übersetzungen von Gertrude Stein, Samuel Beckett u. a. Als Multimediakünstlerin arbeitet sie mit Text im Raum. Für die Gedichtbände 'Deutsches Roulette' und 'Blue Box' erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Clemens-Brentano-Preis. Zuletzt erschienen: 'Wittgensteins Nichte' und 'Niemands Frau', das in erweiterter Form, mit Bonusmaterial und einer gemeinsam mit Andrea Wolfensberger produzierten DVD, als 'no one's box' erhältlich ist.
Leseprobe
Das Auto krachte über einen schlafenden Polizisten (so heißt, was man auf Deutsch 'verkehrsberuhigende Maßnahme' nennt: sleeping policeman), ich saß zwar auf der englischen Fahrerseite, aber trotzdem auf dem Beifahrersitz, weil das Auto ein kontinentales war, und sagte erschrocken 'Oh sorry!' - Dies muss der Moment meiner vollständigen innern Ankunft gewesen sein. Bille, die schon elf Jahre in London lebte, lachte sich halb kaputt: Quiet polite! Als 'politeness' hat Höflichkeit mit der bearbeiteten, 'polierten' Oberfläche zu tun, möglicherweise auch mit Politik, mit der Stadt, der griechischen Polis; deutsche 'Höflichkeit' hingegen mit etwas von allen Seiten Eingeschlossenem: dem Hof - der andererseits auch Ausstrahlung haben kann, als 'court' ein Hort der Courtoisie, zu Deutsch eher 'Ritterlichkeit', die Damen so schonmal nicht ansteht. Bille gab Gas und hupte vier Jungs von der Straße, die über eine rote Ampel trödelten. Das war Hackney, das war Eastend, das war 'tough'. Nicht ganz London ist zuvorkommend, und vor allem nicht nachts, wenn auf den Straßen endlich mal ein bisschen Platz ist. Höflichkeit ist, begriff ich, auch eine Platzfrage; das war das England.