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Mein fremder Krieg

Erinnerungen

Erschienen am 25.09.2015
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783938803745
Sprache: Deutsch
Umfang: 264 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 20.6 x 13 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

MEIN FREMDER KRIEG (MINHA GUERRA ALHEIA), 2010 in Rio de Janeiro erschienen, ist ein autobiographisches Szenenbuch und zugleich eine Art erwachter Empfindungsfundus aus den Erinnerungen der italo-brasilianischen Autorin Marina Colasanti. 1937 wird Marina Colasanti in Asmara, dem damaligen italienischen Kolonialgebiet Abessinien, als Kind italienischer Eltern geboren, die Familie zieht 1940 wieder nach Italien. Auf den für die Dreijährige besonders prägenden Kulturwechsel folgen bald die Eindrücke des Zweiten Weltkriegs - wenn auch aus einer gewissen Wahrnehmungsferne, denn der Vater findet immer wieder sichere, gar schöne Zuhause, auch wenn die Familie dafür ständig erneut aufbrechen und das Land durchreisen muß im Zurückweichen vor der Front. Trotz ihrer besonderen Geborgenheit: Auch diese Kindheit bestimmt natürlich der Krieg mit seinen Bedrohlichkeiten, dem Zerfallen des gewohnten Erlebens, dem Erlernen von Verzicht: 'Das erste, was man im Krieg lernt, oder wenigstens eines der ersten Dinge, mit denen ich mein kindliches Überlebenseinmaleins erstellte, ist das Ersetzen. Wenn etwas, das zuvor als unersetzlich galt, zu fehlen beginnt, setzt man etwas anderes an seine Stelle, das von nun an unersetzlich ist, bis es seinerseits ersetzt wird. Man dankt dem Himmel dafür, daß es das andere gibt. Und an Stelle des Wortes unersetzlich setzt man wünschenswert.' MEIN FREMDER KRIEG ist zunächst eine Spurensuche nach dem schon lange verstorbenen Vater, einem Industriellen, der ein überzeugter Anhänger Mussolinis gewesen war, auch nach den Ursachen seiner faschistischen Überzeugungen. Es ist zudem ein Erinnerungsbuch, bei dem der Krieg sich in den Augen eines Kindes spiegelt, dem glückliche Umstände gestatteten, nicht nur am Leben, sondern mit allen Sinnen lebendig zu bleiben, so daß der erwachsene Mensch Impressionen von ungeheurer Detailgenauigkeit und verblüffender Präzision hervorzuholen vermag. Und die Wiederbegegnung der erwachsenen Autorin mit den Orten ihrer Kindheit verleiht den Kindheitserinnerungen eine melancholische Aura der Unwiederbringlichkeit. Die Erfahrungen der Kindheit sind zu Kristall geschossen, und die erwachsene Frau bemüht sich vergeblich, die Kristallschichten zu durchdringen, um dem Kind noch einmal begegnen zu können: Sie kann es sehen, aber nicht berühren. Der Schutzmantel, in den die kleine Marina gehüllt zu sein scheint, ist ein schon seit frühester Jugend künstlerischer Blick auf alles, was sich um sie herum ereignet. Vater und ein Bruder, die später Schauspieler sein werden, dazu eine Großtante, eine berühmte Opernsängerin, und ein Onkel, der als Bühnen- und Kostümbildner nicht nur in Theatern und Operhäusern zu Hause war, sondern auch in der Cinecittà ein und aus ging (und das Mädchen dorthin mitnahm) - so werden ihr die Beobachtungen und Erlebnisse zu Film- oder Bühnenszenen, und ihre Aufmerksamkeit führt dabei Regie. Vor allem der Film ist ihr Ariadnefaden, an dem Colasanti sich durch das Labyrinth der historischen, familiären und emotionalen Wirren tastet. Und wann immer der Kindsverstand einstmals an seine Grenzen stieß oder heute das erinnernde Verständnis sich müht, hilft der Rekurs auf das große Deutungssystem Kino, um sich zurechtzufinden. Diese Autobiographie berichtet somit auch davon, wie eine Familie, ein Land, eine Zeit, wenn alle Orientierung erlischt, den Blick zum verführerischen Licht der Leinwand richtet und sich dadurch mitunter sogar (wieder)entdeckt.

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Autorenportrait

MARINA COLASANTI wurde 1937 in Asmara (Italienisch-Eritrea) geboren. Nach einer Kindheit in Libyen und Italien zog die Familie 1948 nach Brasilien. Sie studierte Malerei, arbeitete als Journalistin und Übersetzerin und veröffentlichte eine Reihe von Kinderbüchern sowie Lyrik. Ihr Vater Manfredo und ihr Bruder Ardunio waren in Brasilien bekannte Schauspieler, ihr Onkel Veniero in Europa ein vielbeschäftigter Bühnen- und Kostümbildner. Sie ist mit dem Schriftsteller und ehemaligen Leiter der brasilianischen Nationalbibliothek Affonso Romano de Sant'Anna verheiratet.

Leseprobe

An dem Morgen, an dem ich mit Affonso nach Albavilla zurückkehrte, war das Tor der Kirche angelehnt. Wir traten ein. Doch im Gegensatz zu dem, was ich erwartete, sagte mir das Innere nichts. An diesem fernen Osterfest war ich zu beschäftigt gewesen mit den Glasperlen der Kette, mit dem weichen Pullover, der so weich war wie das Kaninchen meiner Mutter - nein, er war nicht aus dessen Fell hergestellt worden - und den vielen anderen Menschen ringsum, um mich auf Statuen und Kandelaber zu konzentrieren. Und nun war es im Innern, als wäre dies nicht dieselbe Kirche. Dennoch dankte ich vor dem Hinausgehen dafür, daß es mir verstattet gewesen war zurückzukehren. Es war fast niemand auf den Straßen. Früher Morgen, alle waren sicher bei der Arbeit, die meisten in Como. Wenige Autos fuhren vorüber. Wir sahen einen Blumenladen, ein Lebensmittelgeschäft mit einem üppigen Angebot an Früchten und Gemüse davor. Ja, die Zeit des Krieges gehörte der Vergangenheit an. Das Haus, droben, stand noch so vereinzelt wie damals, nur ein anderes am Hang nun vorgelagert, in gehöriger Entfernung jedoch. Zuvor waren es drei gewesen, in einem Fächer verteilt, doch so weit weg voneinander und in Grün gehüllt, daß jedes einzeln dastand. Wie es erreichen? Von dort, wo wir waren, sah man keinen Weg. Albavilla erstreckt sich der Länge nach, als würde es den Fuß des Gebirges begleiten, öffnet sich hier und da zu kurvenreichen Straßen und Gassen, die sich zwischen den Häusern verstecken zu wollen scheinen. Wir wählten eine, nicht weil sie mir vertraut war, sondern weil sie in die richtige Richtung abzubiegen schien, und begannen ihr zu folgen. Es war kurz nach halb zehn. Sogleich kamen wir aus der Stadt heraus. Was für einen geheimen Zauber haben diese alten Wege, die wie Flüsse zwischen Steinmauern rinnen, daß sie meine Seele derart heftig ergreifen? Efeu zieht sich über einzelne Stellen, von oben herab quellen Büschel von Wildblumen, Eidechsen fliehen zwischen Ritzen. Und alles scheint das Alter der Welt zu haben. Immer weiter bergauf wurden wir von nicht enden wollenden Sträßchen geführt, die mal in Treppen ausliefen, mal sich zu Abzweigungen hin öffneten, deren Verlauf wir unmöglich vorhersehen konnten. Wir blieben vor einem von blühenden Glyzinien überquellenden Chalet stehen, doch es war nicht meines. Wir blieben vor einem Haus mit einer kleinen Höhle unter einer verglasten Terrasse stehen, doch es war nicht meines. Wir gingen immer weiter hinauf. Blieben stehen, da die Aussicht auf die ineinander verschlungenen Dächer dort unten uns dazu anhielt. Die drei Seen glitzerten in der Ferne. 'Meine Seen!' rief ich schweigend, und mehr als ein Gruß war es eine Beschwörung. Kurz danach hielten wir an, da uns der Atem ausging. Und blieben noch einmal stehen, denn die Zeit hatte unsere Schritte begleitet, und als es Mittag geworden war, läuteten die Glocken oben im Turm der Kirche, die Glocken läuteten wie an jenem Ostermorgen, und ich war kein Mädchen im hortensienfarbenen Pullover mehr, sondern die Frau, die gekommen war, um es zu suchen und die die Hand über den Perlen einer verlorenen Kette schloß.