Beschreibung
In den letzten Jahrzehnten hat die Wahrnehmung der Visualität des Theaterereignisses deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Kostüme und Bühne erzeugen Bilder, sie prägen das ästhetische Erleben des Zuschauers und seinen Zugang zum Stück. Kostüme lenken die Wahrnehmung der Figuren, indem sie deren visuelle Präsenz bestimmen. Die Bezüge zwischen dem Körper des Schauspielers, dem Kostüm als dessen Umhüllung und dem inszenierten Raum kontextualisieren den szenischen Körper, sie sind Substanz der Inszenierung und elementar für die Erarbeitung der Rolle. Im zeitgenössischen Theater kann der Kostümbildner das gesamte Spektrum der Möglichkeiten ausloten: Vom Kostüm als skulpturalem Zeichen einer Eigenrealität auf der Bühne bis zum Kostüm, das sich als Alltagskleidung - sei sie eigens angefertigt oder gefunden - zum Zeichen von historischer oder gegenwärtiger Zeitlichkeit machen will, reichen die Ausdrucksmöglichkeiten in allen denkbaren Abstufungen und Verschiebungen. Lektionen 6 "Kostümbild" gibt Studierenden, Lehrenden und Kostümbildnern einen umfassenden Überblick über die Grundlagen der Ausbildung, das Kostümbild als Beruf und das Selbstverständnis von Praktikern.
Autorenportrait
Florence von Gerkan, geboren 1960 in Hamburg, ist Kostümbildnerin und seit 2003 Leiterin des Studiengangs Kostümbild an der Universität der Künste Berlin, an der sie selbst studierte. Ihre ersten selbständigen Kostümarbeiten entstanden ab 1988 am Thalia Theater Hamburg. Zu sehen waren ihre Arbeiten u. a. auch am Opernhaus Zürich, der Staatsoper Wien, der Scala Mailand und der Metropolitan Opera New York. Für Heiner Goebbels gestaltete sie u. a. die Kostüme für "Landschaft mit entfernten Verwandten" 2002 am Grand Théâtre de Genève und "Eraritjaritjaka" 2004 am Théâtre Vidy-Lausanne. Zuletzt waren ihre Kostüme u. a. in der Inszenierung "Delusion of the Fury" von Harry Partch bei der Ruhrtriennale zu sehen. Nicole Gronemeyer, geboren 1969 in Norddeutschland, war nach dem Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg Assistentin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur und am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Nach der Promotion zum Thema Optische Magie. Zur Geschichte der visuellen Medien in der Frühen Neuzeit wechselte sie in die Verlagswelt und arbeitete als Lektorin für den Henschel Verlag, Berlin. 2007 kam sie als Mitglied der Redaktion zu Theater der Zeit und ist hier seit 2008 verantwortliche Lektorin im Buchverlag.
Leseprobe
"Wir fundieren also unsere Moral des Kostüms auf der Notwendigkeit, in jedem Fall den sozialen Gestus des Stückes zu manifestieren. Das heißt, dass wir dem Kostüm eine rein funktionelle Rolle zuweisen werden und diese Funktion eher intellektueller Art sein wird als körperlich gestaltend oder emotional. Das Kostüm ist nicht mehr als der weitere Ausdruck einer Beziehung, der in jedem Moment den Sinn des Werkes seiner äußeren Erscheinungsform hinzufügen muss. Also ist alles im Kostüm schlecht, was die Klarheit dieser Beziehung verwirrt, dem sozialen ,Gestus' des Stückes widerspricht, ihn verschleiert oder verfälscht; im Gegensatz ist alles gut, was in Formen, Farben, Substanzen und ihrer Anordnung dem Verständnis dieses ,Gestus' hilft." (Roland Barthes, Essais critiques, Paris 1964) Was Roland Barthes in den 1950er Jahren in Auslegung des epischen Theaters von Bertolt Brecht formuliert hat, lässt sich als der Beginn der Entwicklung des Kostümbildes als Kunst im modernen Sinne lesen. War das Kostümbild im 19. Jahrhundert die textile Ergänzung zum bürgerlichen Literaturtheater, bezeichnet es nun ein künstlerisches Handlungsfeld, das weit über das hinausgreift, was man einmal mit dem Begriff Ausstattung benannt hat, es wird zum mitdenkenden Gestalter einer Inszenierung. Das Ziel dieser Inszenierung war für Brecht ein neuer Realismus, der nicht das Abbild einer Wirklichkeit im Sinne des psychologischen Realismus von Stanislawski ist, sondern die verborgenen gesellschaftlichen Widersprüche mittels der Verfremdung zur Erscheinung bringt. Im epischen Theater werden die Mittel der Inszenierung als solche vorgeführt und emanzipieren sich im weiteren Verlauf der jüngeren Theatergeschichte von der ihnen zugeschriebenen funktionellen Rolle. Sie beanspruchen mehr und mehr ästhetische Autonomie, indem die Materialität des sinnlichen Ereignisses auf der Bühne in den Vordergrund tritt. Das Kostümbild hat im zeitgenössischen Theater den Anspruch, eine eigenständige künstlerische Setzung zu sein, bei der der Kostümbildner innerhalb des künstlerischen Leitungsteams, also gemeinsam mit dem Bühnenbildner und dem Regisseur, eine Welt erfindet. In diesem Anspruch trifft es auf ein weites Verständnis dessen, was Theater sein kann: Neben die psychologisch motivierte Figureninterpretation des klassischen Dramentextes treten Einflüsse aus der bildenden Kunst, dem Tanz und der Performance, die mit ganz anderen Strategien der Verkörperung arbeiten. Der Versuch, einen anderen Wirklichkeitsbezug auf der Bühne herzustellen, kennt gleichermaßen Formen des Dokumentartheaters, die mit Laien arbeiten, wie kunstautonome Bestrebungen, die die Realität des Bühnenereignisses und die Präsenz des Akteurs zum Thema machen. In diesem Spektrum haben die ästhetischen Setzungen, die das Kostümbild macht, völlig verschiedene Aufgaben; doch bei aller künstlerischen Eigenständigkeit kann das Kostüm nie isoliert von dem Menschen auf der Bühne betrachtet werden, mit dem es agiert. Wenn man also den Entwurf des Kostümbilds als einen künstlerischen Handlungsmodus begreift, der mit Formen und Materialen am Körper des Darstellers arbeitet, wie lässt sich diese Kunst erlernen? Und welche Voraussetzungen sind es, die ein junger Mensch mitbringen sollte, der Kostümbildner werden will? Florence von Gerkan gibt in ihrem Beitrag zur Aufnahmeprüfung einen Einblick, nach welchen Interessen und Fähigkeiten bei den Bewerbern gesucht wird, um "Figurenerfinder" zu finden. Dabei geht es jedoch nicht darum, eine bestimmte Schule vorzuführen, sondern durch die Beiträge der Lehrenden verschiedener Hochschulen wird im ersten Kapitel die gesamte Breite und Vielfalt im Verständnis des Fachs und seiner Vermittlung dargestellt. Im kreativen Zentrum steht dabei der Entwurf, das "Alphabet der Schönheit", wie es rosalie in ihrem Artikel sinnlich und sinnhaft beschreibt. An allen Beiträgen ist abzulesen: Der Entwurf ist ein zutiefst ernsthafter, an eine Subjektivität gebundener schöpferischer Prozess