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Hannahs Verlies

Roman

Erschienen am 15.08.2021
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783963113291
Sprache: Deutsch
Umfang: 478 S.
Format (T/L/B): 4 x 21.6 x 14.3 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Wenn Schuld und Sühne ein Leben zerstören 'Vielleicht, so dachte er, war Gott doch tot. Erschlagen bei den Kämpfen um Breslau, verhungert auf einer Kellerstufe im Lager von Ketschendorf, erfroren im zugigen Viehwaggon gen Osten oder in einer einsamen sibirischen Winternacht, in der der Wind um die Baracken heulte.' Winter 1945. Um sie vor marodierenden Soldaten und einer drohenden Vergewaltigung zu schützen, mauert ein Fünfzehnjähriger seine Schwester im Keller eines Bauernhauses ein. Dann wird er verhaftet. Während er sich noch der ersten Deportation durch Flucht entziehen kann, erlebt der Kindersoldat in verschiedenen Fronteinsätzen die Gräuel des Krieges hautnah mit. Sein Versuch, sich zum Heimatdorf durchzuschlagen misslingt letztendlich kurz vor dem Ziel Andreas H. Apelt erspart seinem Helden nichts: Er durchleidet das Kriegsende und die sowjetische Kriegsgefangenschaft in all den schrecklichen Facetten und kann nie mehr ein normales Leben führen. So erschütternd, dass einem beim Lesen der Atem stockt.

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Hersteller:
Mitteldeutscher Verlag GmbH
mueller@mitteldeutscherverlag.de
Bernburger Str. 2
DE 06108 Halle (Saale)

Autorenportrait

Andreas H. Apelt, geb. 1958 in Luckau/Brandenburg, gelernter Forstarbeiter, vor und nach dem Studium der Geschichte/Germanistik Arbeit in verschiedenen Berufen, Promotion Politikwissenschaft. Autor und Herausgeber zahlreicher Romane und Sachbücher zur DDR-, NS- und Zeitgeschichte, u. a. zuletzt im Mitteldeutschen Verlag erschienen »Pappelallee« (2014), »Hitlers letzte Armee: Kinder und Jugendliche im Kriegseinsatz« (2015).

Leseprobe

Vom Tod seines Bruders erfuhr Helmuth erst viele Tage später. Und das war ein Zufall. Da war er gar nicht mehr in Sophienhof. Denn selbst Pfarrer Szymak brachte es nicht übers Herz, die Harders mit der Nachricht zu behelligen. Dafür machten sie seit Tagen die Hölle durch. Ihr Haus neben der Kirche wurde gleich als Erstes geplündert, Geschirr und Möbel zerschlagen und die Wäsche auf dem Hof verstreut. Großvater Gustav, neben dem Enkel der einzige männliche Bewohner, wurde noch am Abend mit Knüppeln barfuß aus dem Haus und über das tief verschneite Feld getrieben. Dort blieb der fast Achtzigjährige liegen, stark blutend und dem Erfrierungstod nah. Aber er überlebte, weil ihn ein Nachbar in der Nacht vom Feld rettete. Doch eine schwere Lungenentzündung folgte. Nach gut einer Woche im hohen Fieber starb Gustav Harder, ohne seine Frau, die Kinder oder Enkel noch einmal gesehen zu haben. Noch in der Nacht vergingen sich die Eindringlinge an Helmuths Schwester Elsa, die es nicht rechtzeitig schaffte, aus dem Haus zu fliehen. Auch das Flehen der Großmutter, sie statt der Sechzehnjährigen vorzuziehen, lehnten die Soldaten, die inzwischen auch die Schnapsvorräte im Keller fanden, grölend ab. Ein Fußtritt beförderte die alte Frau die Kellertreppe hinunter, wo sie mit gebrochenem Genick liegen blieb. Davon bekam Hannah nichts mit. In letzter Sekunde war ihr der Sprung aus dem Fenster des Wohnzimmers gelungen, um sich ins Pfarrhaus zu retten. Szymak versteckte sie in der Sakristei der Kirche in einer Truhe. Helmuth dagegen blieb jede Flucht verwehrt. Erst wollte er dem Großvater helfen, doch die Soldaten stellten sich ihm im Hausflur in den Weg. Mit drei Gewehrkolbenschlägen ging er zu Boden und blieb regungslos auf dem Steinfußboden liegen. Noch im Fallen sah er, wie zwei russische Uniformierte die Mutter in das elterliche Schlafzimmer zerrten. Dann wurde es um ihn dunkel. Als er wieder zu sich kam, lag er noch immer im Hausflur. Die Soldaten hatten, vom Schnaps benommen, inzwischen von den Frauen abgelassen und begannen zu singen. Es waren fremdartige russische Laute, die das Haus füllten, schwermütige Weisen eines fernen Landes, nur unterbrochen vom Gelächter und Gläserschlagen. Dazwischen versuchte ein blutjunger Asiate, unbeholfen auf dem Hausklavier zu spielen. Das Klavier, ein Förster, hatte Karl Harder erst Weihnachten 1942 neu gekauft, weil das alte ständig verstimmt und für die Hausmusik nicht mehr zu gebrauchen war. Außerdem wusste der Vater, dass er Helmuth damit eine besondere Freude bereitete. Der Asiate schlug wild in die Tasten, doch passten die Töne nicht zu den russischen Liedern. Irgendwann kamen die Rotarmisten auf die Idee, Helmuth ans Klavier zu setzen. Sie ergriffen den Fünfzehnjährigen, zerrten ihn in den Hof, wo sie ihn mit eiskaltem Wasser aus der Pumpe überschütteten. Dann forderten sie ihn auf, unter Androhung von Prügeln, für sie zu spielen. Helmuth, noch ganz benommen und durch die Kolbenschläge gezeichnet, kannte aber gar keine Stücke, die den Soldaten gefallen konnten. Zögerlich begann er, jene Lieder zu spielen, die eigentlich im Gottesdienst Verwendung fanden: Ach traure nicht, du frommer Christ, der du im Elend jetz und bist, mußt gehn auf fremde Straßen. Schwer ist das Joch, doch lebet noch, der sein Volk nie verlassen. Langsam wurde er sicherer, obwohl die Hände auf der Tastatur zitterten. So lange er spielte, ließen ihn die Soldaten in Ruhe. Und so keimte die Hoffnung, dass die Frauen ihn irgendwo im Haus hören könnten, ihn, der Gott anrufen, den Schmerz teilen und Trost spenden wollte. Wieder und wieder schickte er die Botschaft: Ach, Gott, verlass mich nicht! Gib mir die Gnadenhände, ach führe mich, dein Kind, dass ich den Lauf vollende Beim Spielen liefen ihm die Tränen, ausgerechnet ihm, Helmuth Harder, der dem davonziehenden Vater versprochen hatte, wie ein Mann die Last zu tragen. Doch wo war seine Mannhaftigkeit? Wie hatte er Mutter und Schwester beschützt? Nein, er hatte es nicht vermocht, dafür spielte er und hoffte, mit der Musik den Geschundenen beizustehen. Denn Gott sollte ihre Klagen hören! Aber hörte sie Gott? Und wo war er? Oder unterdrückte der Sohn mit der Musik nur die Schreie der Mutter und Schwester? Verzweifelt sang Helmuth mit seiner hohen klaren Stimme und er wurde lauter und lauter. Bald schon fehlten ihm die Stücke und so griff er notgedrungen auf christliche Weihnachtslieder zurück, die er noch vor wenigen Wochen mit Elsa und Hannah am Heiligen Abend in der elterlichen Wohnstube zur Aufführung gebracht hatte. Damals leuchteten die Augen der Mutter und zeigten an, wie stolz sie auf ihn, den daheimgebliebenen Sohn war. Davon konnten die Soldaten nichts wissen. Aber auch sie fanden Gefallen an den deutschen Liedern, noch mehr an Helmuths Stimme. Egal ob Kirchen- oder Weihnachtslieder, für die fremden Soldaten machte das keinen Unterschied. Verstehen konnten sie es sowieso nicht. Und dass diese Deutschen irgendwie als schwermütig galten, war kein Geheimnis. Lachend und zugleich fluchend hatten die Rotarmisten Besitz vom Harderschen Bauernhaus ergriffen. Sie lagen auf dem guten Sofa oder auf der Ofenbank, schliefen am Küchentisch oder auf dem Teppich in der Wohnstube. Andere durchstöberten das Haus auf der Suche nach Alkohol, Uhren oder Schmuck, betranken sich und warteten, bis sie die Schwerkraft umriss. Polternd und krachend gingen sie zwischen Scherben von Ton und Glas zu Boden. Dabei rissen sie mit sich, was sie fassen konnten, Gardinen, Möbel, Tücher, Lampen. Wieder andere versuchten nach der Melodie des Jungen zu tanzen. Am schlimmsten aber war für Helmuth die Gewissheit, dass er mit seiner Musik Begleitmelodien einer ungeheuerlichen Orgie lieferte. Und die endete erst tief in der Nacht. Doch damit nicht genug. Sophienhof blieb fest in der Hand der Besatzer und täglich wiederholte sich die Hölle auf Erden, wie es Pfarrer Szymak nannte. Die Toten konnten weder aufgebahrt noch beerdigt werden, denn kaum einer der Bewohner traute sich auf die Straße, aus Angst marodierenden Soldaten und Offizieren in die Hände zu fallen. Auch bei Harders wiederholte sich das Grauen. Der Sohn bot am Klavier den musikalischen Rahmen für das Wüten enthemmter Soldaten, die über Elsa und die Mutter herfielen, die sich bis zur Besinnung besoffen und dem Fünfzehnjährigen mit Prügel drohten, sollte er auch nur einmal das Spielen unterbrechen. So wurde er zum Zeugen der Hölle, die auf Erden einen Ort gefunden hatte und ihn nicht wieder verlassen wollte. Denn die Front stockte über Tage an der Oder. General Schukow, zum Angriff auf die schlesische Metropole Breslau bereit, saß mit seiner 4. Armee fest. Szymak ließ nun Nacht für Nacht die Glocken schlagen. Irgendwann müsse ihn doch der Herr erhören. Aber der Herr hörte ihn nicht, nicht in der ersten und nicht in der zweiten Nacht. In der dritten war den Besatzern das Glockenläuten zu viel, sie drangen in die Kirche ein und hängten Szymak am Glockenstrick auf. Zum Glück fanden die Mörder Hannah nicht, die sich noch immer in der Sakristei versteckt hielt. Doch da war sie fortan nicht mehr sicher. Nur wohin mit einem dreizehnjährigen blonden Mädchen? Im Wald würde sie jetzt, Mitte Februar, erfrieren und über die Oder zu kommen war aussichtslos. Außerdem wimmelte es nur so von Soldaten. Es war an einem frühen Morgen, der trüb und neblig über dem Hof hing, als sich Mutter Harder durch zerfetzte Wäschestücke, Scherben und Unrat in die Küche schleppte, um sich an ihren Sohn zu wenden. Die Soldaten hatten gerade das Haus verlassen, während Helmuth erschöpft und übernächtigt in einer Ecke am Herd kauerte. Ich halte das nicht mehr aus, jammerte die Mutter. Ich weiß nicht, ob ich das überleben werde, aber du, so sagte sie mit zitternder Stimme, musst jetzt stark sein, ganz stark. Und du musst dich um Hannah kümmern. Deine Schwester ist doch erst dreizehn! Unter Tränen versprach der Sohn, alles zu tun, um Hannah zu beschützen. Ihr wird kein Haar gekrümmt, s...