Beschreibung
Lionel Essrog wächst in einem Waisenhaus in Brooklyn auf. Aber nicht nur das macht ihn zu einem Außenseiter: Lionel leidet am Tourette-Syndrom - einem Sturm in seinem Kopf, der nur zur Ruhe kommt, wenn er sinnlose Wortfetzen aus sich heraus schreit. Lionels Zukunft scheint durch seine Lebensumstände bereits vorgezeichnet, doch das ändert sich, als ihn der charismatische Kleinmafiosi Frank Minna für seine Geschäfte anheuert. Als Frank ermordet wird, macht es sich Lionel zur Aufgabe, den Mörder zu stellen ...
Ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award for Fiction, dem Gold Dagger sowie dem Salon Book Award.
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Leseprobe
Kontext ist das A und O. Verkleidet mich und ihr werdet staunen. Ich bin Jahrmarktschreier, Auktionator, Straßenkünstler, Wortverdreher, ein Abgeordneter bin ich, trunken vom vielen Reden. Ich habe Tourette. Mein Mundwerk läßt sich nicht zügeln, obgleich ich meist nur flüstere oder die Lippen bewege, als würde ich laut lesen, mein Adamsapfel springt auf und ab, unter meinen Wangen pocht die Kiefermuskulatur wie ein Miniaturherz, der unterdrückten Stimme entfliehen die Worte tonlos, reine Geister ihrer selbst, leere Hülsen ohne Laut und Atem. In dieser gedämpften Form fließen die Wärter aus dem Füllhorn meines Geistes, um über die Erdoberfläche zu jagen und die Realität zu kitzeln wie Finger die Klaviatur. Streichelnd, lockend. Eine unsichtbare Armee auf Friedensmission, eine friedfertige Horde. Ohne böse Absichten. Sie besänftigen, interpretieren, massieren. An allen Enden glätten sie Mängel, streichen Haare zurecht, ordnen die Dinge, treten den Rasen wieder fest. Zählen und polieren das Silber. Geben älteren Damen einen freundlichen Klaps auf den Po, ernten so ein Kichern. Wehe aber - und hier kommt der Haken - alles ist zu perfekt, die Oberfläche zu glatt, alles bereits geordnet, die älteren Damen selbstgefällig, dann rebelliert meine kleine Armee und plündert die Läden. Die Wirklichkeit benötigt hier und da einen kleinen Kratzer, der Teppich eine Fluse. Meine Worte beginnen nervös am Garn zu zupfen, suchen nach Angriffsfläche, einem schwachen Punkt, einem verwundbaren Ohr. Dann bricht er los, der Zwang, in der Kirche zu schreien, in der Kinderstation, im überfüllten Kinosaal. Zunächst ist es nur ein Jucken. Unregelmäßig. Aber bald schon schwillt das Jucken an, türmt sich auf wie eine Flutwelle hinter einem berstenden Damm. Noahs Sintflut. Dieses Jucken ist mein Leben. Achtung jetzt. Haltet euch die Ohren zu. Baut eine Arche. "Lutsch mich!" schreie ich. "Munischvol", gab Gilbert Coney als Antwort auf meinen Ausbruch, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Ich konnte kaum die Wörter auseinanderhalten - "mein Mund ist voll" -, Wahrheit und Witz zugleich, wie lahm. An meine verbalen Tics gewöhnt, sparte er sich normalerweise jeden Kommentar. Zusammengeknüllt schubste er die Tüte White Castles über den Autositz in meine Richtung. "Stopfinsmaul." Coney erwartete keine besondere Reaktion von mir. "Lutschmichlutschmichlutschmich", kreischte ich erneut, um noch mehr Druck aus meinem Kopf abzulassen. Dann war ich bereit, mich zu konzentrieren. Ich bediente mich und nahm einen der kleinen Burger. Beim Auspacken hob ich die obere Brötchenhälfte an, um die Lochstruktur im Belag unter die Lupe zu nehmen, den Überzug aus glänzenden Zwiebelstückchen. Dies war auch so ein Zwang von mir. Ich mußte einen White Castle immer aufklappen, um den Gegensatz von maschinell hergestelltem Burger und dem Schmelz aus gebratener Pampe zu begutachten. Chaos und Ordnung. Dann befolgte ich mehr oder weniger Gilberts Rat - und stopfte mir das Teil ganz in den Mund. Den alten Slogan "Hol dir das Dutzend" summend im Hinterkopf, die Kiefer in Betrieb, um den Happen in verdaubare Portionen zu zermalmen, widmete ich mich wieder der Beobachtung des Hauses. Essen macht mich wirklich friedlich. Wir observierten die Nummer 109 East 84th Street, ein freistehendes Wohnhaus, umgeben von riesigen Apartmentgebäuden, in deren Foyers Fahrradkuriere mit dampfendem chinesischem Essen verschwanden und wie müde Motten zurück ins verblassende Novemberlicht flatterten. Es war Abendessenszeit in Yorktown. Gilbert Coney und ich hatten unseren Teil zum Festmahl beigetragen, als wir hoch nach Spanish Harlem gefahren waren, um die Burger zu holen. Es gibt nur noch einen White Castle in Manhattan, oben auf der East 103rd Street. Er kommt nicht an die Filialen in den Vororten heran. Man kann auch nicht mehr bei der Zubereitung zuschauen, und um ehrlich zu sein, frage ich mich inzwischen, ob sie die Brötchen in die Mikrowelle tun, statt sie zu rösten. Sei's drum. Unsere derart in Frage g Leseprobe