Beschreibung
Drei ungleiche Brüder, ein maroder Bauernhof und ein Familiengeheimnis, das jeder kennt, aber niemand auszusprechen wagt. Die Familiensaga geht weiter: Nach dem Tod der Mutter werden die Karten neu gemischt. Für Bauer Tor, der mit dem alten Vater nun alleine auf dem heruntergekommenen Hof Byneset lebt, sind die Konflikte vorprogrammiert. Seine Tochter Torunn schwebt gerade in neuem Liebesglück und kann sich noch nicht wirklich zu einer Zukunft im Schweinestall durchringen. Bestattungsunternehmer Margido kämpft gegen seine Gefühle an, während Erlend und sein Lebensgefährte in Kopenhagen weit weg von der Familie heimlich an ihrem Kinderwunsch arbeiten. Alles scheint seinen Gang zu gehen, bis auf Byneset die Situation plötzlich eskaliert.
Autorenportrait
Anne B. Ragde wurde 1957 im westnorwegischen Hardanger geboren. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Norwegens und wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt mit dem Norwegian Language Prize und dem Norwegischen Buchhandelspreis. Mit ihrer Serie »Das Lügenhaus«, »Einsiedlerkrebse« und »Hitzewelle« schrieb sie sich in die Herzen der Leserinnen und Leser; ihre Romane erreichten in Norwegen eine Millionenauflage. Anne B. Ragde lebt heute in Trondheim.
Leseprobe
Sie wurde sonst nie so früh wach. Sie blieb mit weit offenen Augen in dem dunklen Schlafzimmer liegen und lauschte auf seine Geräusche. Zuerst auf das hektische Klingeln des Weckers, das so schnell abgewürgt wurde, wie es angefangen hatte, sicher hatte er schon darauf gewartet. Es war halb sieben, das wusste sie. Danach war es für einen kurzen Moment still, und dann hörte sie, wie seine Zimmertür sich lautlos öffnete, um ebenso lautlos wieder geschlossen zu werden. Darauf folgten leise Geräusche, von der Tür bis zum Badezimmer. Er wusste, dass Fremde im Haus waren, und er wollte keinen Lärm machen, denn sicher hielt er sie dafür. Fremde, die hier eigentlich nichts zu suchen hatten, die herkamen, störten, sich einmischten und die Jahre voller schlichter Routine und Sicherheit aus dem Gleichgewicht brachten.Sie kannte ihren Vater nicht. Im Grunde wusste sie nicht, wer er war. Wie er als Junge ausgesehen hatte, als Kind oder in ihrem eigenen Alter. Auf dem Hof gab es nicht ein einziges Fotoalbum. Es war wie eine Geschichte, von der sie nie ein Teil gewesen war, in deren Zentrum sie sich aber nun plötzlich aufhielt. An diesem Tag jedoch würde sie abreisen und sich wieder in ihre eigene Geschichte einklinken. Daran dachte sie, als sie hier lag, dass sie abreisen würde, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Der Einzige, den sie kannte, war der Schweinezüchter, der, der sich so gern im Stall einschloss, dessen Stimme sang und lebendig wurde, wenn er von den Eigenheiten der verschiedenen Sauen erzählte, von den frechen Streichen der Ferkel, von den großzügigen Würfen und den Wachstumskurven. Im Stall sah sie ihn, im Stall war er präsent, wenn er in seinem verdreckten Overall dastand und sich in die Koben bückte, um eine Sau von einer Vierteltonne hinter den Ohren zu kraulen, während er das Tier strahlend anlächelte und sein Blick hell und leicht war.Sie hörte, wie er Wasser ließ, mitten in die Schüssel, das konnte er einfach nicht geräuschlos, egal, wie viele Gäste im Haus auch schlafen mochten. Sie lauschte auf die letzten Tropfen, horchte, wie er abzog. Sie hörte danach kein Wasser im Waschbecken, hörte nur, dass die Tür abermals geöffnet und geschlossen wurde, ehe er langsam die Treppe zur Küche hinunterging. Dann hörte sie, wie er Wasser in den Kaffeekessel gab, vermutlich auf den alten Kaffeesatz vom Vortag, danach war es still.Und in der Stille gab sie sich alle Mühe, sich ihre Wohnung zu Hause in Oslo ins Gedächtnis zu rufen: Die Bilder an den Wänden, die Bücher in den Regalen, die kleine Glasschale mit den blauen Badeperlen, den Staubsauger im viel zu engen Schrank auf dem Flur, den Anrufbeantworter, der blinkte, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, den Korb für die schmutzige Wäsche, den Stapel von alten Zeitungen gleich neben der Eingangstür, die antike Blechdose, die sie immer wieder mit Keksen füllte, die Pinnwand mit abgerissenen Kinokarten und Bildern von Hunden und deren Besitzern. Sie versuchte, sich das alles vorzustellen, und schaffte es auch. Sie freute sich darüber. Aber sie wusste nicht, wer er war. Sie wusste nicht, wen sie hier verließ. Seine Schweine kannte sie besser als ihn.Nun hörte sie die Haustür und seine Schritte im Anbau. Ihre Finger griffen nach dem Telefon auf dem Nachttisch und drückten auf die Tasten. Es war zehn vor sieben. Sie wartete auf das Geräusch der Stalltür, die hinter ihm ins Schloss fiel, dann sprang sie aus dem Bett und lief durch das eiskalte Zimmer, riss ihre Kleider an sich und stürzte ins Badezimmer, um sich anzuziehen. Wie er, schlich auch sie. Nur tat sie es blitzschnell und nicht auf seine Altmännerweise. Im Badezimmer nahm sie noch schwach seinen Geruch wahr. Das Bad war kalt, die einzige Wärmequelle war eine kleine rostige Heizsonne, die über dem Toilettenspiegel an der Wand angebracht war. Sie musterte ihr Gesicht, während sie sich die Hände wusch. Sie brachte es nicht über sich zu duschen und wollte warten, bis sie nach Hause kam, wo sie nicht in einer glitschigen Badewanne st Leseprobe
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