0
25,90 €
(inkl. MwSt.)

Nicht lieferbar

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446205673
Sprache: Deutsch
Umfang: 384 S.
Format (T/L/B): 3.2 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Roberto Calasso führt durch ein imaginäres Museum der Dichter und Denker. Von Nietzsche über Robert Walser, Kraus bis zu Wedekind und Benjamin reicht der Bogen, auch verfemte Autoren wie Stirner oder Schreber lässt Calasso nicht aus. In den Essays findet man zahlreiche Verbindungen, verblüffende Assoziationen und erstaunliche Blickwinkel auf die Welt jenes archaischen Zeitalters, das einst die "Moderne" genannt wurde. Eine Verführung zum Lesen.

Autorenportrait

Roberto Calasso, 1941 in Florenz geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger des Adelphi Verlags in Mailand. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen zuletzt: Der Traum Baudelaires (2012) und Glut (2015). 

Leseprobe

Viele Leser werden sich an ein Kapitel aus Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften erinnern, in dem Ulrich über einen Ausdruck nachdenkt, den er in einem Artikel der Sportseite gelesen hat und in dem von einem -genialen Rennpferd- die Rede ist. Daß ein Rennpferd als -genial- bezeichnet wird, meint Ulrich, bedeutet etwas, was die ganze Weltgeschichte betrifft. Und aus diesem Umstand zieht er die angemessenen Konsequenzen, nämlich sich für ein Jahr von seinem Beruf als Mathematiker beurlauben zu lassen, womit er durch und durch zum -Mann ohne Eigenschaften- wird. Machen wir jedoch den Versuch, das Erlebnis Ulrichs auf die heutige Zeit zu übertragen: Höchstwahrscheinlich würde es uns heute nicht passieren, den Ausdruck -ein geniales Rennpferd- zu lesen, sondern wir würden auf eine andere Formulierung stoßen. Womöglich würden wir lesen, das Rennpferd sei ein regelrechter -Mythos-. Als ich vor wenigen Tagen eine Zeitung aufschlug, fiel mir die ganzseitige Werbung für ein Auto auf - für welches, weiß ich nicht mehr. Zu sehen war eine Abbildung des Autos, und daneben standen die Worte: -Hier kommt der Mythos schlechthin!- Das klingt offenbar alles durchaus normal, so wie die Formulierung -ein geniales Rennpferd- für die Zeitgenossen Ulrichs normal klang. Da können wir uns nun fragen: Wie ist es zu dieser sonderbaren Normalität gekommen? Wie viele Jahrhunderte und Jahrtausende historischen Geschehens verbergen sich hinter der Erfindung des Sportjournalisten oder des Werbetexters. Wenn wir den üblichen Gebrauch der Worte betrachten, merken wir sofort, daß das Wort -Mythos- heute vor allem noch in zwei Bedeutungen verwendet wird. Einerseits ist da die Bedeutung, in der auf etwas Absolutes verwiesen wird, auf etwas ohnegleichen, über das nicht hinausgegangen werden kann. Dies ist der Gedanke, der dem Werbetexter vorschwebt, wenn er die Formulierung -Mythos schlechthin- wählt, um das Auto zu bezeichnen, das glorifiziert werden soll. Das -Mythische- ist hier also etwas, was von der Aura der Höchstleistung umhüllt ist. Die zweite Bedeutung ist der ersten völlig entgegengesetzt: Allenthalben sind wir von Personen umgeben, die diesen oder jenen Mythos für unglaubhaft erklären, die ihn bekämpfen und ihn der öffentlichen Verachtung aussetzen. Hier nimmt das Wort -Mythos- schlicht die Bedeutung -Lüge- an. Gemeint ist eine generell phantasievolle und mit einem gewissen Pathos einhergehende Unwahrheit, die der Unvoreingenommene verscheuchen und besiegen muß. Hinter der trostlosen Banalität dieser beiden Bedeutungen des Wortes -Mythos- verbirgt sich, wie ich meine, eine lange Geschichte, die alles andere als banal ist. Ich würde sogar behaupten, daß sich hier der Strudel der Geschichte selbst auftut. In ihn werden wir uns im Zuge dieses hastigen Exkurses gewiß nicht stürzen. In Erinnerung rufen möchte ich lediglich einige Punkte des Geschehens, das sich hinter dem üblichen, ahnungslosen und stolzen Gebrauch eines Wortes abzeichnet. Außerdem möchte ich als bescheidenen praktischen Vorschlag eine Maßnahme des Selbstschutzes für uns alle nahelegen, nämlich das Wort -Mythos- einzig und allein zur Bezugnahme auf die Erzählungen von Göttern und Heroen zu verwenden, die auch von den antiken Autoren als Mythen gekennzeichnet worden sind. Womit man also für immer aus der Gesellschaft der Werbetexter wie aus der Gesellschaft der Entzauberer ausschiede, die übrigens häufig zusammenfallen, so wie in einer Geschichte von Borges die feindlichen Theologen im Himmel entdecken, daß sie ein und dieselbe Person sind. Daß am Mythos, an seiner unbändigen Lügenhaftigkeit Anstoß genommen wird, gehört nicht bloß zu den Abfallprodukten der Aufklärung von heute. Im antiken Griechenland stoßen wir seit Xenophanes überall auf diese Haltung. Doch es gibt einen Text, in dem die Argumentation gegen den Mythos mit höchster Autorität und mit höchster Eindringlichkeit geführt wird. Das ist Platons Staat. Dieser Text wirft sein Licht auf ... Leseprobe

Weitere Artikel aus der Kategorie "Belletristik/Essays, Feuillton, Literaturkritik, Interviews"

Alle Artikel anzeigen