Beschreibung
Ängste vor sozialem Abstieg prägen das Lebensgefühl der Mittelschicht. Je größer die Verunsicherung, desto mehr wird die "Mitte" als Hort von Sicherheit und Normalität herbeigesehnt. Anpassung mutiert dabei zur zentralen Strategie im Wettbewerb um Lebenschancen. Zugleich polarisiert sich die Mittelschicht immer mehr. Am unteren Ende kämpfen prekär Beschäftigte gegen den sozialen Abstieg, oben gelingt es dem bildungsorientierten Bürgertum, durch Abgrenzung Besitzstände zu verteidigen. Und dazwischen erhebt das moderne Kleinbürgertum die Selbstoptimierung zur Lebensaufgabe. Die neue Mitte, so das Fazit, ist von Leistungsdruck und Überforderung ebenso geprägt wie von der Rückkehr zu konservativen Werten - was sich nicht zuletzt in der Renaissance alter Rollenmuster in Ehe und Familie spiegelt. Dies hat Folgen für alle, denn der Mittelstand hat als stilbildendes Großmilieu Vorbildfunktion. Cornelia Koppetsch schildert in einer Reihe von Stimmungsbildern, wie sich in dieser Lage Lebensformen und Mentalitäten in unserer Gesellschaft verändern.
Autorenportrait
Cornelia Koppetsch ist Soziologin und Professorin für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung an der TU Darmstadt.
Leseprobe
Einleitung Die Mittelschicht blickt auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte zurück. Seit Beginn der Bundesrepublik wuchs sie beträchtlich und trug auch in politischer Hinsicht zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Sie war "Integrationsinstanz und Aufstiegsmotor" (Münkler 2010: 71), weil sie den unterprivilegierten Schichten ermöglichte, in die gesellschaftliche Mitte aufzuschließen. Sie galt lange Zeit als Ort der Sicherheit und Beständigkeit, da sie dazu beitrug, dass die Gesellschaft nicht von ihren Extremen unterlaufen wurde. Und sie war Normgebungsinstanz, da ihr Lebensentwurf - die Normalität der Arbeit, des Lebenslaufs und der bürgerschaftlichen Tugenden - für die Gesellschaft im Ganzen verbindlich wurde. Nicht die Eliten, sondern die Mittelschicht prägten das Modell eines gelungenen Lebens. Heute gilt die Mittelschicht als gefährdet. Darüber wird in prominenten sozialwissenschaftlichen Analysen aktuell diskutiert.1 Die Globalisierung von Unternehmen führte zu Umbrüchen in der Arbeitswelt, die viele Arbeitnehmer schleichend oder drastisch zu spüren bekommen. Es ist ungemütlich geworden. Eine kollektive Erfahrung der Prekarisierung und Verwundbarkeit hat sich ausgebreitet, wodurch für viele die Zugehörigkeit zur Mitte infrage gestellt ist. Zudem zieht sich der Wohlfahrtsstaat zurück, sodass Gesundheit, Sicherheit und Bildung, die der Staat einst fraglos bereitstellte, zu privaten Gütern wurden, die eigene Anstrengungen erfordern. In diesem Prozess können nicht mehr alle mithalten, womit sich auch das soziale Klima verändert. Die Bereitschaft der Mittelschicht, sich für Unterprivilegierte zu öffnen, sinkt, stattdessen breitet sich eine Wagenburgmentalität aus. Die Mitte ist kein Fahrstuhl mehr, der allen, die sich die Werte der Mittelschicht aneignen, zum Aufstieg verhilft. Anstelle von Solidarität und Gemeinsinn treten Wettbewerb und Markt. Durch diese Entwicklungen kam die ehemals charakteristische Expansion der Mittelschicht zum Erliegen. Die Globalisierung von Wirtschaftskreisläufen entmachtete die Mittelschicht zudem in wirtschaftlicher und moralischer Hinsicht. Unternehmen, die Produktionsstandorte in andere Länder auslagern, haben das Interesse am Wohlergehen der Mittelschicht weitgehend verloren, sodass der Einfluss von Arbeitnehmern, Volksparteien und Gewerkschaften sinkt. Dadurch polarisiert sich die Mittelschicht immer mehr. Offenkundig befindet sich die Gesellschaft heute nicht mehr, wie Ulrich Beck behauptete, "jenseits von Klasse und Stand", sondern ist zurück auf dem Weg in eine Klassengesellschaft, in der Verteilungsfragen wieder über Lebenschancen entscheiden. Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf die Mentalitäten und das Lebensgefühl der Menschen in der Mittelschicht? Entgegen aktueller Zeitdiagnosen, wonach es unter den gegenwärtigen Bedingungen zu einer Beschleunigung und Aktivierung in der Lebensführung komme (Rosa 2005; Lessenich 2008), zeigen die hier vorgelegten Analysen, dass viele Menschen sich eher Einhegung, Rückzug und Bindung wünschen. Dies gilt paradoxerweise auch gerade für solche Milieus, die innerhalb des neuen Kapitalismus als Avantgarde gelten. Diese Milieus passen sich zwar in ihren öffentlichen Rollen den neuen Forderungen nach Flexibilität und Reflexivität an, streben in ihrem privaten Umfeld oft jedoch nach Sicherheiten und traditionellen Lebensformen. Damit zeichnet sich eine Umkehrung von Werten und Orientierungen ab. In der Phase des Wohlfahrtskapitalismus der Bundesrepublik galt es, etwa im Rahmen der Neuen Sozialen Bewegungen, als besonders fortschrittlich, eingetretene Pfade zu verlassen und mit alternativen Lebensentwürfen zu experimentieren. Heute konzentrieren sich dieselben Milieus auf Absicherung, Statuserhalt und Anpassung an die vorgegebenen Strukturen. Die Einzelnen fürchten sich nicht mehr in erster Linie vor Beschränktheit und Provinzialität, sondern vor Statusverlusten und suchen Bindungen statt Optionen. Viele füh