Beschreibung
25 Jahre nach dem Mauerfall sind in Ostdeutschland erstaunliche Veränderungen zu beobachten: Galten die Gewerkschaften im Osten der Republik als besonders schwach, verspüren sie heute Rückenwind. Verschiedene Gewerkschaften gewinnen Mitglieder, unterstützen die Gründung von Betriebsräten und schließen neue Tarifverträge ab. Diese nachholende betriebliche Demokratisierung führt jedoch immer wieder zu heftigen Konflikten und Streiks. Auf der Grundlage von 70 Experten- und Beschäftigteninterviews in 21 Fallbetrieben untersuchen die Autoren die Gründe für die gewerkschaftliche Erneuerung und erörtern, ob sich diese Entwicklung konsolidieren wird.
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Autorenportrait
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Thomas Goes, Dr., ist wiss. Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen. Stefan Schmalz, Dr., ist akademischer Rat und Vertretungsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Jena. Marcel Thiel, Dipl.-Psych., ist dort wiss. Mitarbeiter.
Leseprobe
Vorwort Das Streikjahr 2015 belegt, die Gewerkschaften haben sich zurückgemeldet - und das überraschender Weise auch im Osten der Republik. Das vorliegende Buch fragt nach den Ursachen gewerkschaftlicher Organisierungserfolge und den Gründen für eine zunehmende Konfliktintensität in den organisierten Arbeitsbeziehungen. Dabei gelangt es zu einem überraschenden Befund. Die deutschen Gewerkschaften müssen sich zunehmend in "zwei Welten" tariflicher Regulation behaupten. Während sich die schrumpfende "erste Welt" noch an den Standards des einstigen (west)deutschen Sozialkapitalismus orientiert, expandiert eine "zweite" Welt, in der diese Standards mehr und mehr ihre Gültigkeit verlieren. Die Konfliktlinie zwischen diesen beiden Welten, die sich auch in Ost-West-Differenzen bemerkbar macht, ist zunehmend umkämpft. In ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind die Streiks von 2015 nur zugespitzter Ausdruck eines neuen, mehrdimensionalen Verteilungskonflikts, dessen gesellschaftliche Brisanz in der Öffentlichkeit noch immer unterschätzt wird. Zu diesem Ergebnis gelangen zwei Teilstudien, die wir in diesem Buch zusammenführen. Die erste - in Kooperation mit der Otto Brenner Stiftung realisierte - Untersuchung beschäftigt sich mit der Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in ostdeutschen Betrieben aus den Organisationsbereichen von IG Metall und NGG. Diese Teilstudie wurde erstmals im OBS-Arbeitsheft 83 unter dem Titel "Gewerkschaften im Aufwind? Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in Ostdeutschland" im Herbst 2015 veröffentlicht. Die zweite Untersuchung basiert auf Erhebungen zu den Arbeitskämpfen des Jahres 2015. Sie nimmt zusätzliche Branchen bzw. Sektoren in den Blick (Post, Bahn, Sozial- und Erziehungsdienste) und weitet den Fokus der Analyse auf Westdeutschland aus. Wer an einem komprimierten Überblick über die Ergebnisse der Untersuchung interessiert ist, dem seien die zusammenfassenden Kapitel acht und neun zur Lektüre empfohlen; wer sich einen differenzierten Einblick in die Welt fragmentierter Klassen-Auseinandersetzungen verschaffen will, wird jedoch auf die übrigen Kapitel nicht verzichten können. Ohne die großzügige Förderung durch die Otto Brenner Stiftung und eine Co-Finanzierung seitens der Hans-Böckler-Stiftung hätte weder die Studie zu den Rekrutierungserfolgen in ostdeutschen Betrieben noch das vorliegende Buch entstehen können. Unser Dank gilt den beiden Verantwortlichen der OBS, Jupp Legrand und Burkard Ruppert, die unser Projekt sehr kompetent begleitet haben. Bedanken möchten wir uns auch bei Alessandro Alborea vom Ressort Controlling und Statistik beim IGM-Bundesvorstand, der uns einen Einblick in die Mitgliederstatistiken der IGM ermöglichte. Angeregt hatten die Studie Michael Ebenau (IG Metall Bezirk Mitte) und Wolfgang Lemb (Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der IG Metall). Beiden schulden wir großen Dank. Gleiches gilt für die Experten/-innen, die an der zweiten Teilstudie zu den Arbeitskämpfen mitgewirkt haben. Stellvertretend bedanken wir uns bei den Gewerkschafter/-innen Christoph Ellinghaus (IG Metall), Frank Nachtigall (GDL), Thomas Voß (Ver.di), Andreas Wiedemann (Ver.di) und Ines Zipfel (Ver.di) sowie den Wissenschaftler/-innen Sabrina Apicella, Yalcin Kutlu und Luigi Wolf für ihre informativen Beiträge. Das vorliegende Buch hat vom kooperativen Geist der Jenaer Arbeitssoziologie profitiert. Unser Dank gilt Florian Butollo, Martin Ehrlich, Tom Engel, Dennis Eversberg und Ingo Singe für kritische Kommentierung und Unterstützung. In dem Projekt haben neben den Autoren Manfred Füchtenkötter, Jakob Köster, Daniel Menning, Yvonne Möller und Philipp Motzke als wissenschaftliche Hilfskräfte sowie Daniel Gauerhof als Praktikant mitgearbeitet. Ohne ihr Engagement wären die umfangreichen Forschungen nicht möglich gewesen. Cora Puk hat sich um die Endkorrektur des Manuskripts besonders verdient gemacht. Lena Haubner hat die Grafiken gestaltet. Ein besonderes Dankeschön gilt Janett Grosser, die in ihrer gewohnt gelassenen und freundlichen Art alles zusammen gehalten hat. Gut kooperiert haben wir auch mit unseren Erlanger Kolleginnen Silke Röbenack und Ingrid Artus, die eine Parallel-Studie zu Betriebsräten in Ostdeutschland verfasst haben. Entscheidend für unsere Forschungen war die Bereitschaft von Betriebsräten, Gewerkschaftern und Praktikern aus Verbänden und Politik, uns aufschlussreiche Einblicke in ihre Tätigkeit zu gewähren. Stellvertretend für viele andere seien Conny Weißbach (NGG, Ver.di) und Michael Behr (ThMA) genannt, die sich um unsere Forschungen besonders verdient gemacht haben. Unsere Studie versteht sich als Beitrag zur internationalen Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung. Sie ist im Sinne einer öffentlichen Soziologie in engem Austausch mit Praktikern aus Betrieben, lokalen Gewerkschaftsgliederungen, Interessenverbänden und Ministerien entstanden. Sollten sie öffentliche und wissenschaftliche Debatten um das Comeback der Gewerkschaften weitertreiben, hätten unsere Forschungen ihr wichtiges Ziel erreicht. Klaus Dörre, Thomas Goes, Stefan Schmalz und Marcel Thiel, Jena im Juli 2016 1 Streikrepublik Deutschland? "Deutschland, einig Streikland", so oder ähnlich titelte die Tagespresse im Frühsommer 2015. Den Anlass für derartige Schlagzeilen bot eine für Deutschland ungewöhnliche Häufung von Arbeitskämpfen. "Bahnstreik, Kita-Streik, Poststreik: 2015 ist auf dem besten Weg, ein Superstreikjahr zu werden" (KN, 16. Juni 2015), lautete der Tenor einschlägiger Kommentare. Von den Arbeitskämpfen beeindruckt, ertönte rasch der Ruf nach neuen staatlichen Regeln für den Streik (SZ, 24. Mai 2015). Derartige Reaktionen beruhten auf starken Übertreibungen, denn im europäischen Vergleich und an Streiktagen gemessen, ist die Bundesrepublik noch immer ein wirtschaftsfriedliches Land. Gab es in Deutschland pro 1000 abhängig Beschäftigter im Jahresdurchschnitt (2004-2014) gerade einmal 16 streikbedingte Ausfalltage, waren es in Frankreich 139, in Kanada 102 und in Großbritannien immerhin noch 23. Weniger streikbedingte Ausfalltage zählte man lediglich in Österreich, Polen und der Schweiz. Dies in Rechnung gestellt, war 2015 für die Bundesrepublik dennoch ein außergewöhnliches Jahr (WSI 2016). Rund zwei Millionen Streiktage und 1,1 Millionen an Streiks beteiligte Beschäftigte bedeuteten den höchsten Wert seit über einem Jahrzehnt. Die Zunahme der Arbeitskämpfe im deutschen Kontext steht in deutlichem Kontrast zur Rückläufigkeit von Streiks, wie sie in vielen anderen OECD-Staaten zu beobachten ist (Vandaele 2014: 346?ff.; vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Streiktage Die Besonderheit des Jahres 2015 ergibt sich aber nicht allein aus einer größeren Häufigkeit von Arbeitskämpfen, auch die Inhalte, die Streikformen, die Verläufe, Ziele und Trägergruppen der Konflikte haben sich verändert. Obwohl sich die Streiks von Branche zu Branche stark unterscheiden, zeichnet sich doch eine übergreifende Tendenz ab. Zwar stammte die Mehrzahl der Streikenden noch immer aus der Metall- und Elektroindustrie; die meisten Streiktage und die große Mehrzahl der Arbeitskämpfe wies jedoch der Dienstleistungssektor auf. Die Streiks sind tendenziell weiblicher geworden, sie haben auch den prekären Sektor erfasst, sind in Dienstleistungsbranchen teilweise mit besonderer Härte und offenem Ausgang geführt worden und sie beruhten mitunter auf zuvor unbekannten Formen direkter Mitglieder- und Beschäftigtenpartizipation. Während des Arbeitskampfes der Paketzusteller und in den Auseinandersetzungen bei der Lufthansa agierte das Management der betroffenen Unternehmen gut vorbereitet und mit einem Arsenal an Maßnahmen, das an Niederwerfungsstrategien erinnerte, wie sie zuvor hauptsächlich aus US-amerikanischen Firmen bekannt waren. Im Sozial- und Erziehungssektor, wo es nach fünf Jahren Friedenspflicht zu einem großen Erzwingungsstreik für einen neuen Tarifvertrag kam, lehnten die Mitglieder qua Urabstimmung ei...