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Die Drachen der Tinkerfarm

eBook - Tinkerfarm

Erschienen am 25.08.2010, 1. Auflage 2010
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608101409
Sprache: Deutsch
Umfang: 384 S., 2.12 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Der erste Band der spannenden Fantasyserie von Bestsellerautor Tad Williams und Deborah Beale jetzt als broschierte Ausgabe. Drachen, Einhörner, seltsame Knechte und Mägde, ein streng verbotener Raum, in dem magische Kräfte und dunkle Geheimnisse lauern Was Tyler und Lucinda auf der geheimnisvollen Farm ihres Onkels erleben übersteigt jede Vorstellungskraft. »Eine raffinierte Geschichte, geheimnisvolle Figuren, aber das beste sind die Drachen!« Christopher Paolini

Autorenportrait

Tad Williams, geboren 1957 in Kalifornien, ist Bestseller-Autor und für seine epischen Fantasy- und Science-Fiction-Reihen, darunter Otherland, Shadowmarch, und Das Geheimnis der Großen Schwerter bekannt. Seine Bücher, die Genres erschaffen und bisherige Genre-Grenzen gesprengt haben, wurden weltweit mehrere zehn Millionen Male verkauft.Deborah Beale, geboren 1958, verheiratet mit Tad Williams, war Lektorin für Fantasybücher in London, bevor sie ihre eigene Karriere als Autorin begann.

Leseprobe

3 DER MANN MIT DEM FALSCHEN NAMEN Das Stationsschild an ihrem Bahnhof war alt und ramponiert. Zwei Buchstaben fehlten. WILLKOMMEN IN TANDARD ALLEY . Tyler wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog dann wieder die Baseballmütze über seine strubbeligen braunen Haare. Im Zug war es so heiß gewesen, dass er ganze drei Cokes getrunken hatte, aber hier war es noch heißer. Jetzt nach der Abfahrt des Zuges war der Bahnsteig leer. Tyler hatte den Eindruck, dass sie beide die einzigen Menschen in dem winzigen Städtchen waren. »Wo ist denn Onkel Gideon?«, fragte Lucinda. Sie gingen durch das leere Bahnhofshäuschen und schauten auf die menschenleere Straße. Ein paar Häuser und Geschäfte waren zu sehen, aber keine Leute davor - was Tyler ihnen nicht verdenken konnte. »Oder sollen wir vielleicht zu Fuß zu dieser dämlichen Farm laufen und an Hitzschlag sterben?«, klagte sie. »Irgendjemand wird uns schon abholen kommen«, sagte Tyler und blickte sich um. Im Bahnhof gab es nur einen Schalter und zwei Fahrkartenautomaten, aber drinnen war es kühler als auf dem Bahnsteig. »Jedenfalls hat Mama das gesagt.« »Die war doch in Gedanken schon ganz woanders.« Lucinda strich sich ihre feuchten Strähnen aus den Augen. »Die wollte bloß so schnell wie möglich zu ihrem Single-Dings.« Tyler zuckte nur die Achseln. Über vieles beschwerte sich Lucinda ja zu Recht, aber was konnte man daran ändern? Als Kind war das Leben zum Kotzen. Die Erwachsenen machten einfach, was sie wollten, und behaupteten auch noch, es wäre zu deinem Besten. Man konnte sich darüber grün und blau ärgern, oder man konnte sich mit spannenderen Sachen beschäftigen. Er griff in die Tasche nach seinem GameBoss, da stockte er. Er hörte das eigentümliche Geräusch schon eine Weile, ein Trappelditrapp, das ihn an irgendetwas im Fernsehen erinnerte. Western, alte Western, wie er sie anschauen musste, wenn sie am Wochenende ihren Vater besuchten, weil der glaubte, Tyler würde die auch gern sehen. Tat er nicht, doch es hatte keinen Zweck, darauf hinzuweisen, denn wenn er sagte, dass er die Filme nicht sehen wollte, würde Papa bloß mit ihm in den Park gehen oder sonst wohin, rauchend in der Gegend herumstehen und Tyler dabei zusehen, wie er aus reiner Gefälligkeit am Klettergerüst turnte, als ob er ein kleiner Junge wäre. Oder sie würden, schlimmer noch, zusammen essen gehen, und Papa würde so tun, als ob es ihn brennend interessierte, wer Tylers Freunde waren, und ihn mit Fragen danach traktieren, was er in der Schule lernte. Nichts als Theater. Trappelditrapp. »Da draußen ist ein Pferd«, sagte Tyler. »Was?« Lucinda blickte sich gereizt in dem winzigen Bahnhof um, als ob Onkel Gideon, der Mann mit den feuerspeienden Kühen, plötzlich aus dem Nichts auftauchen würde. »Ein Pferd. Draußen auf der Straße, denke ich. Ich höre ein Pferd.« »Du spinnst ja.« Doch sie folgte ihm nach draußen auf die Straße mit den wenigen heruntergekommenen Häusern und den verlassenen Geschäften. Es war in der Tat ein Pferd, ein kräftiges braunes Pferd, das jetzt vor dem Bahnhof auf der Straße stand, und es war vor einen großen Wagen gespannt, der hoch mit Säcken beladen war. Ein eigenartig aussehender Mann saß vorn auf dem Bock, hielt die Zügel und blickte sie unter der Krempe eines uralten Strohhuts an. Er hatte eine stark sonnengebräunte Haut, eine dünne Hakennase und einen grauen Kinnbart. Seine Augen waren im Schatten des breitkrempigen Hutes kaum zu erkennen. »Ihr seid Tyler und Lucinda?« Sein Akzent ließ die Worte an den falschen Stellen hüpfen, als ob er im Fernsehen einen komischen Ausländer spielte. »Steigt bitte auf den Wagen.« »Bist ... sind Sie Onkel Gideon?«, fragte Tyler zögernd. Der Mann schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, nein. Ich nicht. Ich heiße Walkwell. Ich arbeite für ihn.« Er stieg ab und warf die schweren Koffer der Kinder hinten auf die im Wagen gestapelten Säcke, als ob sie Daunenkissen wären. Tyler fiel auf, dass dieser Mr. Walkwell sehr kleine Füße hatte. Er trug kleine altmodische Schnürstiefel, die aussahen, als gehörten sie einem Kind und nicht einem hochgewachsenen Mann. Er ging auch mit einem unbeholfenen beidseitigen Humpeln, als träte er barfuß auf Glasscherben. Hinzu kam, dass seine Stiefel bei jedem Schritt sonderbar knirschten. Tyler und Lucinda blickten sich an. »Da hat jemand wohl den falschen Namen«, flüsterte sie. Von »gut gehen« konnte man wirklich nicht sprechen. Mr. Walkwell schwang sich wieder auf den Bock und warf ihnen einen säuerlichen Blick zu, als wüsste er, was sie dachten. »Steigt auf.« Auch seine Augen waren seltsam, ganz rotgerändert, als ob er gerade vom Schwimmen käme. Sonst schienen sie eher gelb als braun zu sein. »Sollen wir uns neben Sie setzen?«, fragte Tyler. »Besser, denke ich, als wenn ihr euch auf die Futtersäcke setzt«, antwortete Mr. Walkwell mit einer Stimme, die so trocken war wie die Luft. »Sie rutschen.« Beim Hinaufkraxeln verlor Tyler das Gleichgewicht, aber der bärtige Mann schnappte mit seinen dünnen, braunen Fingern Tylers Handgelenk und hob ihn so mühelos hoch, als wäre er ein Laib Brot. Als Lucinda ebenfalls aufgestiegen war, schnalzte Mr. Walkwell dem Pferd zu, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Das war der einzige Ton, den der Mann von sich gab, bis sie die Stadt weit hinter sich gelassen hatten. Der Typ war offenbar nicht nur gesprächig und leutselig, dachte Tyler, er roch auch. Wobei er nicht widerlich roch, bloß ... kräftig. Er roch nach Schweiß und trockenem Gras und ... und nach Tieren, entschied Tyler, unter anderem. Na ja, das war nicht verwunderlich bei einem, der auf einer Farm arbeitete, oder? Nachdem sie ungefähr eine Viertelstunde gemächlich an gelben Feldern vorbeigerollt waren, bogen sie von der Hauptstraße auf eine breite unbefestigte Piste ab. Diese neue Straße wand sich durch bewaldete Hügel, bis die letzten Biegungen, die man sah, sich weiter hinten in felsigen Höhen verloren. »Wo ist die Farm?«, fragte er. »In dem Tal auf der anderen Seite der Hügel«, sagte Mr. Walkwell. »Das ist aber weit. Warum sind Sie nicht mit dem Auto gekommen?« Der Mann warf Tyler einen Seitenblick zu, der ausgesprochen unfreundlich war. »Nein. Ich mag diese Krachmaschinen nicht. Sie sind unnatürlich.« Lucinda stöhnte. Tyler fast auch. Dass es auf der Farm Fernsehen und sonstigen modernen Komfort gab, wurde immer unwahrscheinlicher. Er versuchte, gar nicht daran zu denken, wie entsetzlich es wäre, wenn er einen ganzen Sommer lang seinen GameBoss nicht aufladen könnte. Hinter der Hügelkuppe kamen sie aus dem Wald ins Freie und sahen das Standard Valley langgestreckt vor sich liegen, ausgelegt mit goldenen Wiesenteppichen, hier und in der Ferne von baumbestandenen Hügeln gesäumt, die erstaunlich hoch waren, fast schon Berge zu nennen. Unter ihnen schlängelte sich ein silbern blinkendes Band in der Nachmittagssonne - ein Fluss. Noch weiter in der Ferne ragte wie eine Mauer am Ende der Welt ein richtiges Gebirge auf, die Sierras. Das Tal sah aus wie einem Ölgemälde entsprungen. »Wow«, sagte Tyler. »Das ist ...« »Das ist echt schön.« Lucinda klang überrascht. Mr. Walkwell lächelte zum ersten Mal, was das wettergegerbte braune Gesicht des Alten völlig veränderte, ihm etwas Faszinierendes und Wildes gab, das an einen schlitzohrigen Piraten erinnerte. Er ließ die Zügel auf den Rücken des Pferdes klatschen, und die Talfahrt begann. [...] 9 TEE MIT DER LILIENKAISERIN Als Lucinda am späten Nachmittag aufwachte, fühlte sie sich wie einmal in der fünften Klasse, als sie ganz schlimm Fieber gehabt hatte und fast zwei Wochen lang zu Hause bleiben musste. In den Phasen hohen Fiebers war ihr die Zeit in seltsamen Schüben vergangen, und manchmal hatte sie sich nur mit Mühe darüber klarwerden können, ob etwas, woran sie sich erinnerte, real oder bloß geträumt war. Wie jetzt. Sie hatte nur ein kurzes Nickerchen machen wollen, dann aber hatte sie das Bewusstsein verloren, als ob jemand sie mit einer Keule niedergeschlagen hätte. Jetzt lag sie auf ihrer Matratze, atmete die allzu warme Luft ein, und die Ereignisse des Vormittags waren ihr bis in die kleinsten Einzelheiten präsent. Es war schwer zu glauben, dass sie das alles wirklich erlebt hatte, die Einhörner und Drachen und Seeschlangen, aber einen derart verwickelten und realistischen Traum konnte es gar nicht geben. Höchstens, wenn man verrückt wurde. Das war ein beängstigender Gedanke. Lucinda setzte sich auf. Es war so heiß im Zimmer, dass sie richtig Atembeklemmung bekam. Sie quälte sich aus dem Bett, um sich im Bad ein Glas Wasser zu holen. Sie klopfte bestimmt eine Minute an Tylers Tür. Als er nicht aufmachte, ging sie mit dem Vorsatz die Treppe hinunter, etwas Besseres zum Trinken zu finden als warmes Leitungswasser. Kurz darauf musste sie erkennen, dass sie mal wieder irgendwo falsch abgebogen war. Sie befand sich in einem verstaubten Flur, dessen dunkelrot tapezierte Wände voll leerer Bilderrahmen hingen. Was ist bloß los mit diesem komischen Haus?, fragte sie sich. Warum verirre ich mich immerzu? Es war fast, als ob das Haus sich von ihr abwenden würde, wie wenn die anderen Mädchen in der Schule vor ihr Geheimnisse hatten und ihr die kalte Schulter zeigten. Lucinda fand es furchtbar, ausgeschlossen zu werden - es nahm ihr alle Kraft, so dass sie in ihrer Schwäche nur noch gemeine, motzige Sachen sagen konnte. Aber im Augenblick war niemand da, zu dem sie irgendetwas hätte sagen können - nur das Haus und seine langen, dunklen, verwinkelten Korridore voll drückend warmer Luft. Es war alles widersinnig, das Haus, die Farm. Woher bekam man richtige Drachen aus Fleisch und Blut? Hatte Tyler recht damit, dass Onkel Gideon der Kopf irgendeines wahnwitzigen gentechnischen Projekts wie in einem Sciencefictionfilm war? Was sonst konnte es sein? Die Tiere waren keine Roboter oder irgendwelche Spezialeffekte, das war gewiss. Meseret hatte ihr direkt in die Augen geschaut. Lucinda hatte keinen Zweifel, dass diese ... Drachin - konnte man das sagen? - real war. Sie blickte auf den abgewetzten Teppich und sein Muster grüner Rosen. Sie war noch nie zuvor in diesem Flur gewesen, ganz bestimmt nicht. Sie irrte mindestens zehn Minuten lang auf Fluren und Treppen auf und ab, ohne an ein Fenster nach draußen oder sonst eine Stelle zu kommen, die sie wiedererkannte. Schließlich öffnete sie eine schwere, holzgetäfelte Tür und hatte den nächsten unbekannten Raum vor sich, ein Zimmer mit staubigen Sofas und Borden voller Fotografien. Zum Teppich mit seinen schwarzen und grauen Feldern und seinen grünen Rosen passte die farblich umgekehrte Tapete, deren Hintergrund hellgrün und deren verschlungene Rosen schwarz waren. Lucinda wollte wieder hinausgehen, zögerte jedoch. Die Bilder hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und trat weiter in den Raum hinein. Unmengen von Fotos standen dort, und alle schienen sie dieselbe dunkelhaarige Frau zu zeigen. Lucinda setzte sich auf eines der Sofas, um die Bilder auf dem Couchtisch zu betrachten, sprang aber gleich wieder auf, weil die Polster dick mit Spinnweben und Staub bedeckt waren. Sie klopfte sich mit leisen Tönen des Abscheus ab und entschied, dass sie sich die Bilder genauso gut im Stehen anschauen konnte. Auf manchen Fotos war die Frau mit anderen zusammen - eines sah nach einem Picknick am See aus, bei dem sie mit mehreren altmodisch gekleideten Personen lächelnd auf einer Decke saß -, doch auf den meisten war sie allein, lächelte oder lachte oder blickte manchmal auch nur mit ruhiger Aufmerksamkeit in die Kamera. Einige waren schwarzweiß, andere in Farbe, wobei keines der Farbfotos richtig realistisch war. Die Frau sah sehr gut aus mit ihrer langbeinigen Figur und diesen langen, dunkelbraunen Locken, die Lucinda sonst nur von Frauen auf alten Gemälden kannte. Sie ließ ihren Blick über den restlichen Raum schweifen. Er fühlte sich an, als ob ihn seit Jahren niemand mehr betreten hätte - richtig ein bisschen unheimlich -, aber merkwürdigerweise fürchtete sie sich kein bisschen, ja, ihr war fast, als träumte sie. In einer Ecke stand eine Schneiderpuppe im Schatten wie eine kopflose Vogelscheuche. Lucinda ging hin und legte der Puppe die Hände auf die Taille. Sie war schlank, aber Hüften und Brüste waren voll. Mutters Freundin Mrs. Peirho schneiderte hin und wieder, und sie hatte ebenfalls eine Schneiderpuppe. Sie hatte Lucinda erzählt, diese Puppen könnten der eigenen Größe genau angepasst werden. Hatte diese hier der Frau auf den Bildern gehört? Wer sie auch war, dachte Lucinda, sie musste sehr klein gewesen sein ... »War sie nicht entzückend?«, sagte eine Stimme. »Sie hieß Grace.« Lucinda stieß einen kleinen Schrei aus und fuhr herum. Patience Needle stand unmittelbar hinter ihr, als ob sie plötzlich aus dem Boden gewachsen wäre. Lucinda taumelte und streckte die Hand aus, um sich auf der Tischplatte abzustützen. Eines der gerahmten Bilder geriet ins Wackeln und fiel herunter. Lucinda wollte es noch auffangen, aber es stürzte zu Boden, und das Glas zerbrach mit einem Klirren, das fast so laut wie ihr Aufschrei war. Als Lucinda es aufhob, eine Mischung aus Scham und Ärger in der Brust, schnitt sie sich an einer scharfen Kante in die Finger. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe, Liebes«, sagte Mrs. Needle und hielt der vor ihr zurückweichenden Lucinda die Hand hin. »Und es tut mir leid, dass ihr Kinder hier einen so merkwürdigen Empfang bekommen habt. Du hast dich verlaufen, nicht wahr? Oh, sieh nur, du hast dich an der Hand verletzt. Du musst dir helfen lassen, wirklich.« Lucindas Finger fingen jetzt an, richtig wehzutun. Das Blut lief in ihrer offenen Hand zusammen, und von dem Anblick wurde ihr schlecht. »Du Ärmste!«, rief Mrs. Needle. »Das ist ja ein böser Schnitt, den du da hast. Kümmere dich nicht um die Scherben, die fege ich später auf.« Sie zog ein sauberes weißes Taschentuch aus ihrer Rocktasche und band es um Lucindas verletzte Finger. »Du musst dich verarzten lassen - ich bestehe darauf.« So dicht vor Mrs. Needle stehend roch Lucinda den schwachen, aber süßen und betörenden Duft von Lilien. »Wer ist die Frau auf diesen vielen Bildern?« »Sie hieß Grace Tinker - nach ihrer Eheschließung dann Grace Goldring. Sie war Gideons Frau. Er hat sie vor vielen Jahren verloren, aber er hat sie sehr, sehr geliebt. Du solltest sie ihm gegenüber nicht erwähnen, denke ich.« Mrs. Needle legte Lucinda eine Hand auf die Schulter. »Wie es hier aussieht! Ich schäme mich richtig, wenn ich mir überlege, wie lange wir hier nicht mehr Staub gewischt haben. Was musst du nur von uns denken! Jetzt komm und lass dich versorgen.« Von Erleichterung durchströmt, weil sie nicht mehr allein hier herumirren musste, ließ Lucinda sich gern aus dem altertümlichen Raum und ein paar Stufen hinunter führen und dann sanft hierhin und dorthin lotsen, als ob sie ein auf dem Fluss treibendes Boot wäre. »Hier«, sagte Mrs. Needle schließlich und schob Lucinda sacht in ein Zimmer, das sich sehr von den anderen unterschied, die sie in diesem merkwürdigen Haus bisher gesehen hatte. Es war sehr groß, doch das war auf der Tinkerfarm, die meist Ordinary Farm genannt wurde, nicht ungewöhnlich. Eine Wand wurde komplett von einem riesigen Schubladenschrank mit bestimmt mehreren hundert kleinen Fächern eingenommen, jedes vielleicht eine Handbreit, die in Reihen bis zur Decke hinauf reichten wie Waben eines Bienenstocks. An einer Seite stand eine Rollleiter, und an einer anderen Wand erstreckte sich ein langer Arbeitstisch, auf dem sich Bücher stapelten, doch es standen auch ein Mikroskop und ein Computer darauf, wobei letzterer in dem ansonsten altmodischen Zimmer einigermaßen deplaziert wirkte. Am hinteren Ende des Raums standen mehrere Türen offen, und während Lucinda zu einem der Sessel geführt wurde, fiel ihr Blick auf zwei Schlafzimmer und ein Bad. Mrs. Needle veranlasste sie, sich zu setzen, und verschwand in ein weiteres Nebenzimmer. »Ich mache uns einen Tee!«, rief sie. Noch immer leicht benommen sah sich Lucinda im Zimmer um und hörte unterdessen einen Wasserkessel ächzen, dann säuseln, dann pfeifen. Gegenüber dem Arbeitstisch blickte man aus hohen Fenstern, doch obwohl der Abendhimmel noch hell war, gab es draußen nicht viel mehr zu sehen als eine der knallbunten Außenwände des Hauses. Unter den Fenstern standen jede Menge Topfpflanzen, die im Raum einen Geruch verbreiteten nach lebendigem Grün und feuchter Erde und etwas anderem, das weniger angenehm war - etwas wie Fleisch oder Blut. Mrs. Needle kam mit einer dampfenden Tasse in der einen Hand und einer kleinen Flasche in der anderen zurück. Sie stellte die Tasse ab und wickelte dann das Taschentuch von Lucindas Fingern. Etwas Kaltes spritzte auf ihre Schnitte und brannte, als ob Mrs. Needle sie mit Säure besprengt hätte. Lucinda zog scharf die Luft ein, doch der Schmerz verging sofort, auch wenn sie noch nachzitterte. Im nächsten Moment hatte sich eine köstliche Kühle über die Hand gelegt, und das Pochen darin war wie weggeblasen. »Oh! Was war das ...?« »Jetzt trink das«, befahl Mrs. Needle und reichte ihr die Tasse Tee. Lucinda blickte auf die sahnige braune Flüssigkeit in dem Porzellanbecher. Der Geruch des Tees - würzig, nach schwarzen Blättern - strömte in sie ein. Sie führte ihn an die Lippen. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Tee so intensiv schmecken konnte, so berauschend und herrlich. »Siehst du«, sagte Mrs. Needle und nahm ihr den Becher ab. »Gleich wird es dir viel besser gehen.« Das Zimmer flirrte wie eine Luftspiegelung. Ihr klopfte das Herz, spürte Lucinda auf einmal. In der Nähe stand eine von weißen Lilien überbordende Vase, und eine leichte Brise vom Fenster trug ihren Duft zu Lucinda. Sie ertrank darin. Ihre Kehle wurde eng, und sie sah, wie ihre Hand krallenartig am Kragen ihres T-Shirts zog. Mrs. Needle war sehr hübsch, aber sie schien weit weg zu sein, wie eine Kaiserin auf einem hohen Thron. Eine Lilienkaiserin ... »Schon gut, Liebes, schon gut«, sagte Mrs. Needle und tätschelte ihre Hand. Lucinda blinzelte. Sie hatte doch gar nichts gesagt, oder? »Geht es dir besser, Lucinda? Was machen die Schnitte?« »Viel besser, danke.« »Gut.« Mrs. Needle hielt ihr das blutbefleckte Taschentuch hin, das sie von Lucindas verletzten Fingern abgenommen hatte. »Siehst du das?«, fragte sie. »In dieser modernen Zeit der Maschinen und der unsichtbaren Elektrizität reden die Leute so viel von ihren neuen Ideen, aber in Wirklichkeit ist gar nichts neu.« Lucinda gaffte sie an. Wie schön Mrs. Needles Mund war, wenn er die Worte formte - und wie schön die Worte in dieser perfekten englischen Aussprache. »Nimm zum Beispiel Blut«, fuhr Mrs. Needle fort. »Lange bevor die Rede war von ... Genen oder der DNA , wussten die Menschen, dass Blut und Haare und Speichel die magischen Essenzen der Dinge enthalten.« Sie nickte bedächtig, blickte dann Lucinda an und lächelte. »Möchtest du gern einen kleinen Zaubertrick sehen?« Lucinda konnte nur nicken. Ihr fiel auf, dass Mrs. Needle irgendwann ihre schwarzen Haare gelöst hatte. Sie waren viel länger, als Lucinda gedacht hatte, hingen weit über den Rücken. Die Geste hatte etwas Ungezwungenes, Heimisches. Und im Moment fühlte sie sich ausgesprochen heimisch. »Dann schau.« Mrs. Needle legte das blutige Taschentuch so zusammen, dass nur noch der weiße Stoff zu sehen war, dann schloss sie die Finger vollständig darum und ballte eine Faust. »Schau genau hin!« Sie machte die Hand auf, und das zusammengeknüllte Taschentuch faltete sich langsam auseinander, bis der Blutfleck wieder zu sehen war ... doch er hatte die Gestalt verändert. Jetzt sah er aus wie die Silhouette eines Mädchens. Mit ihren langen, glatten Haaren hätte es beinahe Lucinda selbst sein können. Auf einmal begann die rote Silhouette sich zu bewegen. Das war vielleicht nur, weil Mrs. Needle etwas die Hand spielen ließ, aber es sah so aus, als ob die kleine Lucinda aus Blut ... tanzte. »Oh.« Lucinda ließ den angehaltenen Atem ausströmen. »Oh! Wie machen Sie das?« Mrs. Needle schloss abermals die Finger um das Taschentuch. »Nur ein kleiner Trick. Zum Zeitvertreib. Hat es dir gefallen?« [...] 20 LETZTE Tyler hatte aufgehört zu fallen. Jetzt schien er in der Dunkelheit zu schweben, aber schweben gab keinen Begriff davon, wie unwohl er sich fühlte. Ihm war so schwindlig, dass sich ihm unter normalen Umständen der Magen umgedreht hätte ... aber er konnte seinen Magen nicht finden . Er schien überhaupt keinen Körper zu haben. Es war, als wäre er nur ein Gehirn, das in einer dunklen Flüssigkeit schwamm, augenlos, stimmlos, hilflos. Trotzdem war ihm kalt, unmenschlich kalt. Kein Körper und doch frieren - gemeiner ging's nicht. Tyler versuchte sich zu bewegen und entdeckte, dass er seinen Körper doch ein wenig fühlen konnte, nur schien er unfassbar fern zu sein, so als wäre sein Kopf ein Drachen, und sein restlicher Körper hielt eine Meile tiefer die Schnur. Er fragte sich, ob ihm etwas richtig Schlimmes zugestoßen war. War er bewusstlos? Verkrüppelt? Schlimmer noch, war er tot? Eine zornige Kraft durchschoss ihn bei dem Gedanken. Was auch geschah, er würde es nicht einfach hinnehmen. Es war nicht seine Art, tatenlos zuzusehen - Tyler Jenkins war einer, der etwas unternahm. Er mobilisierte seine ganze Gedankenkraft, um die Dunkelheit zu vertreiben, um irgendwo hinzugelangen, um aufzuwachen, um etwas zu tun. Nichts geschah. Er versuchte es wieder und wieder. Er dachte an heroische Dinge. Er dachte an schreckliche Dinge, und dann sagte er sich, dass er allein sie verhindern oder beenden konnte. Er dachte an die Menschen, die er liebte - seine Mama, seinen Papa, sogar Lucinda (ja, er liebte sie wohl doch, so sehr sie ihn manchmal nervte) -, aber keiner dieser Gedanken änderte das geringste an der furchtbaren Situation. Nichts, wogegen man sich stemmen konnte. Nichts, wovor man fliehen konnte. Er war in der absoluten Leere verloren, schwebte im unendlichen Schwarz wie eine Blase in einer Asphaltgrube. Da weinte Tyler, jedenfalls meinte er zu weinen. Es war schwer zu sagen. Er wusste nicht, wie lange er so hilflos getrieben war, als er auf einmal merkte, dass er zwar immer noch nicht oben und unten oder links und rechts unterscheiden konnte, die Schwärze aber dennoch nicht mehr völlig einheitlich erschien. Er spürte kleine Unterschiede, die er im Wasser als Druckveränderungen oder kältere und wärmere Strömungen wahrgenommen hätte. Einige Teile der Dunkelheit schienen über ihn hinwegzufließen, andere von ihm fort. Einige wirkten einladender, andere weniger. Aber hatte das irgendetwas zu bedeuten? Als er die wärmere Strömung wieder fühlte (er hätte sie genauso zutreffend »klarer« oder »sanfter« oder sogar »sicherer« nennen können), war er zunächst versucht, ihr zu folgen, doch nach kurzem Bedenken entschied er sich um und bemühte sich, in die Richtung zu streben, aus der dieses neue Gefühl größerer Sicherheit kam. Besser, er bewegte sich auf die Quelle des Gefühls zu, dachte er sich, als davon weg. Zu seiner Erleichterung meinte er zu spüren, wie er ein wenig vorankam, wenn auch nicht auf normale Weise. Es gab in der Tat eine Veränderung, da war er sich sicher. Die verschiedenen Empfindungen, ausgelöst von den über ihn hinweg- oder durch ihn hindurchziehenden Strömen der Schwärze, wurden so stark, dass er beinahe meinte, sie benennen zu können, obwohl die Worte, die in ihm aufstiegen, offensichtlich Unsinn waren, Sachen wie grünwärts und wannseits, und einmal hörte er sogar eine Stimme in seinem Kopf sagen: »Eine Halbkurve zu Ja, aber auf der nächstwärtigen Seite.« Doch er musste den Vorgang nicht verstehen, um ihn zu beeinflussen - es war ein wenig wie Maschineschreiben, das sie in der Schule lernten. Wenn man den Dreh einmal raushatte, musste man nicht mehr die Finger auf der Tastatur anstarren, man beobachtete einfach, wie die Worte vor einem auf dem Bildschirm erschienen. Er lernte, das war es. Er wusste nur nicht so genau, was.

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