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Vinetas Archive

eBook - Annäherungen an Gründe

Erschienen am 07.03.2013, 1. Auflage 2013
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783835324275
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S., 4.33 MB
E-Book
Format: PDF
DRM: Nicht vorhanden

Beschreibung

Ob Uwe Kolbe mit Hölderlin von Bad Homburg nach Frankfurt wandert, ob er Vater und Sohn ein Bratkartoffelgericht zubereiten lässt, in Rheinsberg oder Arkadien unterwegs ist - immer spürt er mit großer Intensität dem geschichtlichen Prozess und der eigenen Identität nach. Beobachtung und Abstraktion, Erzählung und Essay, Nachdenkliches, Poetisches und Polemisches finden zusammen. Was ist der Stoff des Lebens? Wo haben die Erfahrungen, Kontinuitäten und Brüche ihren Grund? Wo verstellen (Selbst-)Täuschungen die klare Sicht auf die Wirklichkeit? Dem Autor sind die Utopien fragwürdig geworden, die einmal auch die eigenen waren. Lange vor '89 verließ er den sich sozialistisch nennenden deutschen Staat; den Mauerfall erlebte er in Texas am Fernseher. Enttäuschungen positiv zu begreifen, ihnen Produktivität abzugewinnen, das ist seit langem sein Credo. Dass Schriftsteller wie Fühmann, Hilbig, Christa Wolf und Robert Walser, bildende Künstler wie Hans Scheib und Annette Schröter für ihn immer wieder Identifikations- und Anstoß- oder Abstoßpunkte sind, verwundert wenig. Im Nachdenken über sie thematisiert Kolbe auch das Eigene, stellt sich den großen Fragen, nach Glück, Scheitern, Tod und deren Widerschein im Poetischen.

Autorenportrait

Uwe Kolbe, geb. 1957 in Berlin; Debüt 1980. 1987 Ausreise in die Bundesrepublik; 1989 Visiting Writer an der Universität in Austin, Texas; 1992 Stipendiat Villa Massimo, Rom; zahlreiche Literaturpreise, zuletzt Friedrich-Hölderlin-Preis Tübingen 1993, Preis der Literaturhäuser 2006 und Heinrich-Mann-Preis der der Akademie der Künste 2012. 1997-2004 leitete er das Studio Literatur und Theater der Universität Tübingen; lebt als freier Schriftsteller in Berlin-Charlottenburg.

Leseprobe

Hölderlins Gewissen1Die Hecke war von hochgewachsenem, dichtem Buchsbaum. Es war der erste Donnerstag im Oktober, die Natur schon in Farben. Der Garten hinter dem Haus stand in leuchtender Pracht. Ich sah das Wirken ihrer Hand. Ich sah es in den Spalieren beim Haus, der Feige und dem Maulbeerbaum mit dem gestützten Ast, die sich beide an die Südseite schmiegten, in den Rosenstöcken, die den Kiesweg säumten. Ich sah es dort hinten auf der Wiese, beim Pavillon, in der Umkränzung der Stricke, mit denen die Schaukel am Ast einer der beiden Eichen befestigt war. An der Ecke ihr Fenster. Ich kannte jeden Raum im Haus, so auch das Zimmer hinter diesem Fenster, ich wußte, wie es dort duftete. Ich sah ihre Hand mir winken und hörte sie rufen. Eine Halluzination. Da sich in Wirklichkeit noch nichts rührte, ging ich den Weg am Bach entlang zum Wirtshaus Lersner. Die Bedienung fragte nach dem Befinden. Wir waren dort jeden Sommer ein paar Mal im Garten eingekehrt, mit den Kindern oder ohne, manches Mal auch mit ihrem Mann, wenn er sich die Zeit nahm. Auf meinen Gesichtsausdruck hin stellte sie das Krüglein mit dem Viertel Apfelmost stumm vor mich hin.2Nun wagte ich es. Der Hausherr kam wochentags nie vor sechs Uhr aus der Stadt. Zwar hatte ich kein Zeichen von Leben gesehen, aber ihren Brief noch einmal und noch einmal gelesen. Ich hatte mich auch im Wirtshaus vergewissert, Tag und Uhrzeit stimmten. Ich nahm den Dienstboteneingang, niemand konnte mich sehen. Ihr Haar lag offen auf dem zarten Rücken, von dem das weiße Kleid einen schönen Bogen frei ließ. Das Profil im Gegenlicht. "Holder", sagte sie, "Es ist schön, daß du wirklich gekommen bist, aber Du weißt..." Ich fiel ihr ins Wort: "Ich war umsichtig, laß es nur diesmal so sein." Wir standen nah voreinander und berührten uns nicht. Ihr Duft von zartem Lavendel. Auf dem Sekretär ein Brief, an dem sie geschrieben hatte. "Darf ich dir eine Feder schneiden?" Ich nahm eine Gänsefeder her und schnitt mir prompt mit dem Federmesser in den Ballen. Nur Augen für sie. Ich tupfte einen Tropfen Bluts vorn nah an den Kiel. Sie lächelte und versorgte die Feder im Sekretär in dem Fach, dem sie zugleich einen versiegelten Brief entnahm und mir hergab. Wie ihre Augen immer mehr glänzten, und auch mir wollte es die Nase hoch steigen. "Du mußt nun gehen", kam es zögerlich, und ich darauf: "Leb wohl, bis November, Geliebte." "Mein Holder", hörte ich noch leise

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