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Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich

Erschienen am 14.04.2014, 1. Auflage 2014
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783890297743
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S., 1 s/w Illustr., 1 Illustr.
Format (T/L/B): 2.9 x 22 x 14.3 cm
Einband: gebundenes Buch

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Malik Verlag Verlagsgruppe Piper
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Georgenstr. 4
DE 80799 München

Autorenportrait

Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, ist Journalist und schreibt Reisereportagen aus aller Welt. Er veröffentlicht unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, Allegra, Stern, Spiegel und Playboy. Er schrieb unter anderem die Bücher »Im Palast der gläsernen Schwäne«, »Tiger fressen keine Yogis«, »Das Haus der sprechenden Tiere«, »Shiva-Moon«, »In 80 Tagen um die Welt«, »Der Jesus vom Sexshop« und »African Queen«.

Leseprobe

Es war einmal ein Märchen. Es lauerte einmal ein Märchen in einem losen Stapel DIN-A4-Blätter neben dem Gästebett von Endi Effendi. Draußen fielen Schneeflocken, drinnen Schleier. Können Sätze wie Schleier fallen? Warum nicht. Sätze sind Alleskönner. Sie können ver- und entschleiern, sie können auch leiern, eiern, abschweifen und verloren gehen.Verloren im Orient, in diesem Fall, denn es war ein tür­kisches Märchen. Es führte mich in einen Basar, in ein Kaffeehaus und in den Harem des Sultans. Und dann brachte es mich in die Wüste hinaus. Das Märchen hieß 'Die Perlenkarawane' und handelte von einem Mann, der vor seiner streitsüchtigen Frau erst in die Schwer­hörigkeit und dann in die Welt der Träume flüchtete. Ich sollte spätestens an dieser Stelle meine Beziehung zu Volksmärchen thematisieren. Sie war denkbar schlecht. Ich war dreißig, ich war Profi, ich war zum Mann gereift, und wann immer mir ein beseeltes Hippiekind indianische, vietnamesische, chinesische, bolivianische, afrikanische und indische Märchen schenkte, landeten sie in der Tonne. Man muss Völkerkundler sein, um sie spannend zu finden, oder man nimmt vor der Lektüre psychedelische Pilze ein. Aber wer macht das, wer will das, wer braucht Geschichten, die erst durch Drogengenuss unterhaltend werden? Es sollte sich umgekehrt verhalten: Ein Satz, der nicht wie eine Pille wirkt, ist kein guter Satz, und ein Märchen, das dich nicht wie eine Droge an sich reißt, ist keine gute Geschichte. Es gibt sanfte und harte Drogen. Eine Geschichte, die das Gemüt eines Abends umdreht, gehört zu den sanften, eine Geschichte, die dein Leben verändert, zu den harten, und ein Märchen, das zu meinem Leben wird, zu den superharten. Dreißig Jahre später öffnet das na­türlich alle Türen, Tore, Balkon- und Fensterläden zu den wildesten Spekulationen. War die 'Perlenkarawane' ­eines dieser Vampirmärchen, die sich den Leser wie frisches Blut reinziehen? Gehörte sie zu den Zaubergeschichten, die dich mitnehmen und nie wieder zurückbringen, weil du eine Rolle, vielleicht sogar der Held in ihnen geworden bist? Wurde mein Leben von einem Märchen verschluckt? Das wäre dann Voodoo. Oder war es vielleicht gar kein Märchen, das in dem Stapel loser DIN-A4-Blätter neben Endi Effendis Gästebett lauerte, sondern einer jener uralten türkischen Geister, die die Form eines Märchens angenommen haben? Soll alles vorkommen. Und zuzutrauen wäre es ihnen. Die bösen heißen Dschinn und sind männlich, die guten heißen Peri und sind weiblich, und tatsächlich glaubte ich einer Frau zuzuhören, als ich das Märchen las. Endi Effendi bestätigte beim Frühstück meine Vermutung. Er sagte, eine alte Schachtel habe 'Die Perlen­karawane' aufgeschrieben, wobei er das 'auf-' betonte, denn wenn es mir um die wahre Autorenschaft ginge, müssten wir bei den zentralasiatischen Schamanen suchen, und das vor etwa 1300 Jahren. Weil ich das ablehnte, blieben wir bei der alten Schachtel. Sie kam in Hameln zur Welt, sie wuchs in Istanbul auf, sie ritt als Mann verkleidet jahrelang durch das Weltreich der Sultane, um an den Feuern der Karawansereien so lange den Märchenerzählern zu lauschen, bis sie selbst einer geworden war, und später, viel später, hatte sie an den Fronten des Zweiten Weltkrieges deutschen Landsern türkische Märchen erzählt, damit ihnen das Sterben leichter fiel. Ihr Name: Baronin Elsa Sophia von Kamphoevener. Die Landser nannten sie 'Kamerad Märchen'. Wer Endi Effendi kannte, weiß, dass seine Frühstücke lang waren und ich hier nur die absolute Kurzfassung seines Vortrages wiedergebe. Wer Endi Effendi kannte, weiß, dass er bei etwa tausend Bechern Tee und etwa tausend Pall Mall in etwa tausend Unter-, Neben- und Parallelgeschichten schwelgte, und wer das für arg übertrieben hält, kannte Endi Effendi eben nicht. Er war ein fleischgewordenes Lexikon, durch das hin und wieder der Kosmos gepfiffen ist. Er wusste nicht nur alles, er wusste mehr. Allgemeinwissen, Geheimwissen, mein Wissen, dein Wissen, sein Gehirn sau