Autorenportrait
Beryl Fletcher, geb. 1938, studierte Soziologie und lebte in Neuseeland, Australien, England und den USA. 1991 erhielt sie für den Roman The Word Burners den Commonwealth Writer's Prize für das beste Debüt im asiatisch-pazifischen Raum. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Neuseelands. Pixels Ahnen erschien erstmals bei btb, unter dem Titel So weit war das Land.
Leseprobe
1. Alice Das erste Problem ist der Kassettenrekorder. Sie kriegt ihn nicht richtig in Gang. Sie fummelt daran herum, bittet mich, langsam ins Mikrofon zu sprechen, dann spult sie zurück und drückt auf Wiedergabe. Nichts. Sie versucht es noch einmal. Diesmal ein schwaches Zischen, Flüstern. 'Ich kam als Alice Nellie Smallacomb zu Welt.' Meine Stimme klingt komisch. Ich hätte gedacht, dass sie mit dem Alter tiefer würde, voller. Aber sie quiekt und krächzt wie bei einem Jungen in der Pubertät, und die Worte kommen anders heraus, als sie sich in meinem Kopf anhören. Vielleicht lebe ich schon zu lange in diesem warmen Inselwind. Tiefe Furchen in meiner Haut - und dann dieses dünne Tremolo. Ich hätte nicht erwartet, dass es mit meiner Stimme eher vorbei sein würde als mit mir. Ich setzte den Kessel auf, als sie kam. Sie trank zwei Tassen Tee und aß ein gebuttertes pikelet. Aber ich merkte, dass sie es kaum abwarten konnte anzufangen. Sie ist ein hübsches Mädchen, sehr schick mit ihren kleinen Schnallenschuhen und den feinen silbernen Tupfen in ihren schwarzen Strümpfen. Sie erzählt mir, dass sie die Lebensgeschichten alter Frauen sammelt, die in den dreißiger Jahren aus Großbritannien in dieses Land kamen. 'Hier ist Ihr Geld, Alice', sagt sie. 'In bar. Und jedes Mal, wenn Sie in den Kassettenrekorder sprechen, gebe ich Ihnen weitere fünfhundert.' Nie hätte ich mir träumen lassen, dass meine gesprochenen Worte mal irgendeinen Wert haben. Zehn Fünfzig-Dollar-Scheine, jeder mit einem Glitzerfaden. Ich falte sie sorgfältig, voller Ehrfurcht. Dann kriege ich Angst. Ich giere geradezu nach diesem Geld. Es gibt so viele Dinge, die ich brauche. Ich werde versuchen, meine Lebensgeschichte so weit wie möglich auszuspinnen. Aber was, wenn ich ihr nicht gebe, was sie will? Was, wenn sie meine Geschichte langweilig findet? Das Mädchen gibt dem Kassettenrekorder einen Klaps, dann spricht sie Datum und Uhrzeit ins Mikrofon. Und es schallt zurück, klar wie eine Glocke. Ihre Stimme ist jung und frisch. Eins von diesen selbstbewussten, gebildeten Mädchen. Angst haben die vor gar nichts. 'Werden Sie mir Fragen stellen?', will ich wissen. 'So wenige wie möglich. Ich möchte Ihre Geschichte in Ihren eigenen Worten hören. Vielleicht könnten wir mit Erinnerungen an Ihre Kindheit beginnen.' Wie soll ich ihr meine frühen Jahre verständlich machen? Ich bin seit fünfundsiebzig Jahren am Leben. Es ist, als schaute man über einen gewaltigen, düsteren Ozean hinweg auf eine einzelne Kerze, die am Horizont eben flackernd ausgehen will. Tote Zeit, erstarrt in Geschichte. So zumindest wird es ihr vorkommen. Ich weiß nicht, ob sie mir glauben kann, dass ich das absolute Gedächtnis für jedes wichtige Gespräch und Ereignis habe, das mein Leben geprägt hat. Es ist noch zu früh, ihr von meinem System zur Speicherung von Erinnerungen zu erzählen. Womöglich denkt sie, ich wäre verrückt, mit meinem Gerede über Glasperlen und Kaleidoskope und chiffrierte Farben, Rot für Leben, Weiß für Tod, Schwarz für Erneuerung. 'Wo soll ich anfangen?'