Beschreibung
Polen, 1944. Die kleine Gretel hat zwar alles verloren, aber sie ist schlau und lässt sich nicht so leicht unterkriegen. In Jakób findet sie einen Beschützer, der das Mädchen mit den jüdischen Wurzeln nach dem Krieg in einem Adoptionsprogramm unterbringt. Dieses bietet Kindern von SS-Offizieren in Südafrika ein neues Zuhause. Für Gretel, die nun Grietjie heißt, ändert sich von einem auf den anderen Tag alles. So trennen sich Gretels und Jakóbs Wege. Jahre später begegnen sie sich wieder. Auf einem anderen Kontinent. Gretel ist inzwischen eine attraktive, erfolgreiche junge Frau und hat sich ein neues Leben aufgebaut. Können sie da anknüpfen, wo sie aufgehört haben? Wollen sie das überhaupt? Gretels Leben gerät völlig überraschend in Turbulenzen und sie muss sich mit Fragen auseinandersetzen, die sie bisher verdrängt hat ...
Autorenportrait
Irma Joubert lebt in Südafrika. Sie war fünfunddreißig Jahre lang Lehrerin und hat mit dem Schreiben begonnen, nachdem sie in Rente gegangen ist. Sie schreibt, weil sie eine Leidenschaft für Geschichten hat. Solange Menschen die Erde bewohnen, können die Geschichten nicht aufhören, glaubt sie. Im Jahr 2005 wurde sie von Media 24 zur Sonderjournalistin des Jahres erklärt. Sie war auch in der Endausscheidung für den Mondipreis für Zeitschriftenjournalistik. Sie ist verheiratet mit Jan, der nach siebenunddreißig Jahren immer noch glaubt, dass sie wunderbar aussieht. Sie haben drei Söhne, eine Schwiegertochter und einen Pflegetochter.
Leseprobe
1. Kapitel Südpolen, April 1944 Du musst loslassen!, sagt ihre Oma. Aber sie klammert sich verbissen fest. Der eiserne Rand schneidet ihr in die Finger, ihre Füße suchen verzweifelt nach Halt. Doch der Drache schwankt gefährlich hin und her. Ihre Beine strampeln unter ihr in der Luft. Gretel, lass los! Die Stimme ihrer Oma übertönt schrill das Schnauben des Drachen. Wir sind gleich oben, du musst jetzt loslassen! Sie sieht hinunter. Der Boden ist weit weg. Überall liegen Schottersteine, der Abhang geht in eine tiefe Schlucht über. Durch den Schmerz verkrampfen sich ihre Arme, ihre Hände haben kaum noch die Kraft, sich festzuhalten. In diesem Augenblick macht ihre Oma ihre Finger los. Sie schlägt so hart auf den Boden, dass ihr der Schock durch den ausgemergelten Körper fährt. Zuerst fällt sie, dann rutscht sie und schließlich rollt sie den Abhang hinunter. Der Schotter zerkratzt ihr das Gesicht und die Beine. Sie beißt die Zähne zusammen, um bloß nicht zu schreien. Am Fuß des Grabens kommt sie jäh zum Stillstand. Einen Augenblick lang liegt sie totenstill da. Ihr Atem keucht, ihr Herzschlag dröhnt ihr so laut in den Ohren, dass sie Angst hat, die Wachen könnten ihn hören. Roll dich sofort zu einem Bündel zusammen. Zieh den Kopf ein und bleib totenstill liegen, hat ihre Oma ihr eingeschärft. Und bleib an Ort und Stelle, bis Elsa zu dir kommt. Also rollt sie sich zu einem Bündel zusammen. Der Boden unter ihr bebt, sie spürt, wie sich der Schotter und der Sand unter ihr und um sie herum bewegen. Sie zieht den Kopf noch weiter ein, denn über ihr stöhnt und schnaubt der lange Drache weiter den Hügel hinauf. Er spuckt Rauch und bläst Dampf, sie weiß es, weil sie seinen sauren Atem riechen kann. Aber sie wagt es nicht hinzuschauen. Jetzt ist er anscheinend oben angekommen, denn sie hört, wie sein Keuchen hastiger und das Rattern der auf den Schienen rollenden Eisenräder wieder schneller wird. Um sie herum wird es totenstill. Sie hat schrecklichen Durst. Langsam wagt sie es, die Augen zu öffnen. Finsternis umgibt sie, die Nacht ist so dunkel, dass nicht einmal ein Stern zu sehen ist. Und wenn wir Angst haben?, hat Elsa gefragt. Dann denkt ihr an etwas anderes, hat Oma geantwortet. Mutti hat nichts gesagt, sondern nur noch geweint, aber ohne Tränen, denn ihr Körper ist völlig ausgetrocknet gewesen. Ich habe nie Angst, niemals, denkt Gretel, und ich bin dem Drachen entkommen. Erst Elsa, dann ich. Ich bin tapfer und Elsa auch. Vorsichtig dreht sie sich auf den Rücken. Das tut weh. Sie streckt die Beine durch. Offensichtlich kann sie sie noch bewegen, nur ein Knie brennt. Wenn wieder eine Steigung kommt, werden Mutti und Oma auch abhauen. Dann gehen wir alle zusammen zurück zu Omas Haus am Waldrand. Aber nie mehr zurück ins Getto, auf gar keinen Fall. Sie merkt, dass ihr Mund voller Erde ist, aber sie hat keine Spucke mehr, nicht einmal einen Tropfen. Wenn sie jetzt nur einen Schluck Wasser trinken könnte! Vorsichtig betastet sie ihr brennendes Knie. Es fühlt sich klebrig an und ein wenig feucht. Schon lange vor Sonnenaufgang ist das Wasser ausgegangen. Die großen Leute haben dann ihre Arme durch die Gitterstäbe gestreckt und bei jedem Bahnhof um Wasser gebettelt. Aber die Wachen mit ihren Gewehren haben darauf geachtet, dass ihnen niemand etwas gibt. Neben ihnen haben die Hunde ihre Zähne gefletscht und die ganze Zeit gebellt. Aber die konnten wenigstens aus großen Becken modriges Wasser trinken. Und die Lokomotive hat auch ihren Bauch mit klarem Wasser gefüllt. Schau lieber nicht hin, denk an etwas anderes, hat ihr ihre Oma gestern schon geraten. Ihr Gesicht hat seltsam ausgesehen, denn die Sonne hatte Blasen hineingebrannt, weil sie ihren Hut verloren hatte. Auch ihre Stimme war seltsam gewesen, so furchtbar trocken. Und Mutti hatte schließlich aufgehört zu weinen und nur noch vor sich hin gestarrt. Es ist schwer, an etwas anderes zu denken. Eigentlich hat sie ja keine Angst vor der Dunkelheit. Die Dunkelheit ist euer größter Freund, hat Oma schließlich gesagt. Ihr müsst so weit wie möglich von der Bahnlinie wegkommen, solange es noch Nacht ist. Tagsüber müsst ihr euch verstecken. Aber jetzt ist kein Stern zu sehen und der Mond gibt auch nur ab und zu ein bisschen Licht, weil der Himmel bewölkt ist. Hier und da zuckt ein Blitz. Sie hat keine Angst vor Blitzen, denn sie bringen Regen. Und wenn es endlich regnet, dann kann sie sich einfach auf den Rücken legen und muss nur den Mund aufmachen. Und dann kann sie sich voll Wasser laufen lassen, bis sie überfließt. Sie muss unbedingt an etwas anderes denken. Oma hat ein Haus am Waldrand. Es sieht aus wie das Haus von Hänsel und Gretel, aber ohne die Hexe. Gemeinsam pflücken sie Beeren im Wald. Der Wald ist friedlich, sie weiß, dass es dort keinen Wolf gibt, aber zur Sicherheit bleibt sie doch lieber bei Mama oder Elsa, denn man kann ja nie wissen. Vielleicht sollte sie sich besser aufsetzen und leise nach Elsa rufen. Denn jetzt hört sie das Tschuck-tschuck und das Geratter des Zuges schon eine ganze Weile nicht mehr. Und in dieser Finsternis findet Elsa sie nie. Sie setzt sich also auf. Ihr Kopf tut ein bisschen weh. Sie schaut sich um, sieht aber überall nur eine dunkle Nebelgardine. Egal wie sehr sich ihre Augen anstrengen, sie sehen nur Finsternis. Elsa? In der dicken Schwärze um sie herum klingt ihre Stimme dünn. Sie holt tief Luft. Elsa! Das hört sich besser an. Elsa! El-saa-a! Sie bekommt keine Antwort. Jakób Kowalski schiebt seinen bleischweren Sack auf die andere Schulter und blickt in die Finsternis vor sich, in der er kaum etwas erkennen kann. Gelegentlich zucken Blitze durch die dicken Wolken, mehr Licht gibt es nicht. Zum Glück ist die Gegend hier einigermaßen eben, doch ihm ist klar, dass sie mehr Licht brauchen werden, sobald sie zum Fluss hinuntersteigen, denn sonst können sie nicht sehen, wohin sie gehen. Mit den Fingern fährt er sich durch sein schwarzes Haar und kneift die schwarzen Augen zu Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. Warum muss es denn ausgerechnet heute Nacht sein?, mault Zygmund dicht hinter ihm. Seine Stimme überschlägt sich gelegentlich, schließlich ist er gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Man kann ja kaum die Hand vor Augen sehen! Und wenns gleich regnet, werden wir klatschnass, brummt Andrzej. Die Wolken da sehen ziemlich bedrohlich aus. In der verschlüsselten Nachricht hat es geheißen, dass der Zug mit den deutschen Truppen hier kurz vor Tagesanbruch durchkommen wird, auf dem Weg zurück nach Deutschland, antwortet Jakób so ruhig wie möglich, obwohl er merkt, dass sein Geduldsfaden langsam zu reißen beginnt. Bis dahin müssen wir die Bombe unter der Brücke in Stellung gebracht haben. Mir geht das alles viel zu schnell, erwidert Andrzej nervös. Wieso sprengt nicht die Gruppe weiter hinten an der Bahnlinie den Zug in die Luft? Weil es dafür dann schon zu hell sein wird. Jakób kann seine Ungeduld kaum noch beherrschen. Die Heimatarmee hat ihm zwei unerfahrene Kinder mitgegeben, die ihm bei dieser gefährlichen Aktion helfen sollen. Andere Leute gab es nicht. Und du bist dir sicher, dass da keine Wache auf der Brücke steht?, will Andrzej wissen. Ich weiß gar nichts sicher, erwidert Jakób kurz angebunden, außer, dass wir die Bombe noch heute Nacht unter dieser Brücke befestigen müssen. Nehmt also einfach an, es gäbe da einen Wachtposten, und bewegt euch so leise wie möglich. Und wie sollen wir dann sehen, was wir tun?, fragt Zygmund und stellt den schweren, wasserdichten Sack für einen Augenblick neben sich auf dem Boden ab. Unter der Brücke müssen wir vielleicht Licht machen, gibt Jakób zu. Er selbst ist auch besorgt darüber, dass ihr Auftrag praktisch undurchführbar sein könnte. Denn wenn dort an der Brücke tatsächlich ein deutscher Wachtposten sein sollte, dann wird die Aktion unmöglich. Aber Deutschland kann schließlich nicht jede einzelne Brücke in ganz Polen bewachen oder patrouillieren lassen. Wenn es regnet, wird...