Beschreibung
In der wilden Bergwelt des Hindukusch wird einem Kommandanten eine Tochter geboren. Um sein Gesicht nicht zu verlieren, beschließt er, das Kind als Junge zu erziehen - und so wird aus Samira mit der Zeit Samir. Die Lüge verschafft dem Mädchen Freiheiten, die sonst nur einem Mann zustehen. Doch als junge Frau ist Samira schließlich gezwungen, ihr Geheimnis preiszugeben, denn sie empfindet eine tiefe Zuneigung zu ihrem Jugendfreund Bashir.
Leseprobe
Wenn du ein Geheimnis hast, nimm es,trag es zum Hindukusch und leg es unter einen Stein. Ein Mädchen Ist er tot? Sei unbesorgt. Er ist so lebendig wie du und ich. Bist du sicher? Großer Gott im Himmel. Aus welchem Grund soll er tot sein? Wenn er nicht tot ist, warum sagt er nichts? Daria will antworten, kann nicht, beißt die Zähne zusammen, krümmt sich. Der Kommandant sieht den Schmerz seiner schönen Frau nicht, er will eine Antwort von ihr. Daria will nicht, dass die Leute in den anderen Zelten sie hören. Sie erstickt den Schrei in ihrer Kehle. Der Geschmack von Blut kommt in ihren Mund, macht ihr Angst. Sie verliert die Farbe aus ihrem Gesicht. Antworte, sagt der Kommandant. Lass mich in Ruhe. Daria zischt ihre Worte wie eine Schlange. Kaum hat sie sie gesprochen, da bereut sie es auch schon. Obwohl er hinter ihr auf dem Boden hockt, sieht Daria es, der Kommandant erschreckt sich wie ein Kind, zuckt, zieht seinen Körper zusammen, schlingt die Arme um seine Knie, senkt den Blick, macht sich klein, schweigt. Daria mag es nicht, wenn sie die Geduld verliert und mit ihrem Mann schimpft. Sie dreht sich zu ihm herum, lächelt trotz ihres Schmerzes, sagt, hab Geduld. Gott ist groß. Er wird alles richten. Sie spricht leise. Weil es wichtig ist, was sie zu sagen hat. Weil kein anderer es hören soll. Nur ihr Kommandant. Er hebt den Blick, senkt ihn wieder. Schluckt. Umarmt seine Knie nicht mehr, malt mit dem Finger Bilder auf den Boden aus Lehm. Unsichtbare Bilder. Mein Sohn soll Samir heißen, sagt er und lächelt. Ein halb trauriges, halb dankbares Lächeln, das nur Daria kennt. Und vor ihr die tote Mutter des Kommandanten. Es ist nicht das Lächeln eines Mannes. Es ist das eines kleinen Jungen. Der Kommandant hat es aus seiner Kindheit, aus einer Zeit, die er als Damals kennt, in sein Leben als Mann mitgebracht. Damals ist längst verloren. Der Kommandant ist ein Krieger, ein Beschützer, ein Unbesiegbarer, sagen die Leute, senken ihre Stimme, sehen sich um, und wenn der Kommandant nicht in der Nähe ist, sagen sie, nur einen Schmerz erträgt er nicht. Das ist der Schmerz, wenn seine Frau Wut auf ihn hat und mit ihm schimpft. Niemand weiß das besser als Daria selber. Es würde ihren Kommandanten töten, würde sie ihm die Liebe, die er braucht, nicht schenken. Davor hat Daria Angst. Vor seinem Tod und vor Schuld. Deshalb gibt Daria ihm alles, was er braucht, damit er stark sein kann, damit er ein ehrlicher und gottesfürchtiger Mann, ein kluger und gerechter Kommandant sein kann, damit er seine Männer führen und sein Volk beschützen kann, damit er ein gütiger Vater für ihre Kinder werden kann. Daria gibt ihm, was er braucht, damit sie seinen Schutz nicht verliert. Samir ist ein schöner Name, sagt Daria, krümmt sich, richtet sich auf. Ihr Rücken wird zur Wüste, ihre Muskeln werden zu Hügeln aus Sand, die sich vom Wind hierhin und dorthin tragen lassen. Der Kommandant hört jedes Wort seiner Daria. Die Gesprochenen und die Nichtgesprochenen. Daria hockt auf dem Boden, sieht nichts, nur das Feuer im Brotofen und den Topf darauf, in dem das Wasser kocht. Es spricht zu ihr, brodelt und schimpft. Daria antwortet. Die Blasen sind frech und mutig, springen aus dem Topf. Manche fängt Daria in der Luft. Manche springen ins Feuer. Dumme Blasen, sagt Daria halb zu sich selber, halb zum Wasser im Topf. Dumme Blasen, die ins Feuer springen, nur um dort zu sterben. Mit einem Zisch. Dumm wie die Männer, wie die Krieger, dumm wie mein eigener Mann, der Kommandant, der in den Krieg zieht, nur um zu töten und, der Tag wird kommen, um selber getötet zu werden. Am Anfang hat der Kommandant gedacht, seine Daria betrügt ihn. Nach Tagen im Krieg ist er zurück in seine Hochebene gekommen, hat in seinem Zelt Stimmen gehört, hat gedacht, seine Frau hat hinter seinem Rücken Leute in sein Zelt gelassen. Er ist vom Pferd gesprungen, hat sich angeschlichen, hat seinen Dolch gezogen, ist ins Zelt und hat sich gewundert, dass seine Frau allein Leseprobe